Französisches joie de vivre trifft auf melancholische Momente: Jean-Phillipe Blondels „6 Uhr 41“.
Unbedarft öffnet die Leserin „6 Uhr 41“ und sieht sich mit reißenden Gedankenflüssen konfrontiert, die sich scheinbar unkoordiniert über die Seiten ergießen. Sie möchte verstehen und nicht am Ufer verharren. Also taucht sie vorsichtig den ersten Zeh ein. Kalt ist es, ziemlich kalt. Verwirrt überlegt sie, ob sie aufgeben und umkehren soll? Nein, aufgeben käme ihr unangebracht vor. Also liest sie beharrlich weiter. Und siehe da, langsam erwärmt sich die Temperatur und auf einmal will sie ganz tief in die fremde Gedankenwelt eintauchen und sich treiben lassen.
Vor 27 Jahren waren Cécile und Phillipe für kurze Zeit ein Paar. Das Leben steckte noch voller Überraschungen und zahlreicher Versprechungen. Trotzdem wussten sie bereits, dass ihre Beziehung nicht für die Ewigkeit bestimmt sein würde. Im ersten Urlaub zerbrach sie, Cécile reiste alleine und schwer gekränkt nach Frankreich zurück. Ein halbes Leben und eine eigene Familie später treffen die Beiden unvermutet im Zug nach Paris aufeinander. Wie reagieren, ignorieren und komplette Ahnungslosigkeit mimen? Noch während sie fieberhaft an ihren Strategien arbeiten, rollen sie gleichzeitig die Vergangenheit neu auf.
Eigentlich sollte die Lektüre des sehr französischen Romans zart mittels des musikalischen Repertoires von „Le Fabuleux Destin D’Amélie Poulain“ oder „Ensemble, C’est Tout“ untermalt sein. Selten ist Plot-Abstinenz so spannend und ansprechend zugleich. Vermutlich eine Eigenschaft, die nur Franzosen so hervorragend beherrschen. Freilich heißt es dafür durchhalten, die ersten Seiten von Blondels „6 Uhr 41“ (ich kenne übrigens einen Sänger, der ziemlich derbe Lieder auf Schallplatte unter genau dem Pseudonym herausgebrachte) sind für unvorbereitete LeserInnen ebenso verwirrend, wie die plötzliche Konfrontation mit der Vergangenheit von Cécile und Phillipe. Durchhalten wird in diesem Fall belohnt, mit einer wunderbaren Storyline. Spätestens jetzt, nach den ersten mühseligen Leseanfängen, ist es schwer, sich wieder vom Text loszueisen und im Alltag aufzugehen. Die Verfasserin dieser Zeilen beginnt zuerst vorsichtig, dann skeptisch, dann beherrscht und zu guter Letzt immer unkontrollierter die Zeilen zu verschlingen. Wenn sie nicht liest, ertappt sie sich dabei, wie ihre Gedanken zurück in den Roman schweifen.
Das Ende… soll hier natürlich keinesfalls vorweggenommen werden. Wer noch Ausschau nach neuer Lektüre hält, ist mit Blondels „6 Uhr 41“ sehr gut beraten. Wer sich auf Abenteuersuche oder Monsterjagd begeben möchte, sollte sich lieber neu orientieren.
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