Adern | Schauspielhaus Salzburg

Adern – Schauspielhaus Salzburg

Kein Wort zu viel gesagt, ist doch geplaudert: In Max Claessens Inszenierung von „Adern“ hallen die stummen Zwischentöne besonders laut und ziehen zur Rechenschaft. Unglaublich intensiv, unglaublich toll – hingehen und ansehen.

Der Berg ruft und Berlin antwortet. Genau dort befand sich auch die Tiroler Autorin Lisa Wentz, als sie für ein Seminar im Studiengang Szenisches Schreiben etwas verfassen sollte, das aus dem Herzen kommt. Sie schrieb eine Szene über ihre Urgroßmutter, die in den Fünfzigerjahren als junge Frau mit Kind in ein Tiroler Bergdorf kam und dort den Urgroßvater traf. „Adern“ kam ins Rollen – ein Volksstück, mit so reduzierter Sprache und klarem Blick, das genau dadurch seine unglaubliche Beredtheit entwickelt. Die greift Max Claessen auf. Der Regisseur kommt ebenfalls aus der deutschen Bundeshauptstadt und inszenierte „Adern“ für das Schauspielhaus Salzburg als einen Abend voller Emotionen: So stark, so düster und dabei doch so intensiv und schön.

In aller Plot-Kürze

1953 in Tirol: Aloisia begegnet dem schweigsamen Rudolf, der nach dem Tod seiner Frau eine neue Partnerin sucht. Sie antwortet auf seine Anzeige und zieht mit ihrer Tochter zu ihm und seinen fünf Kindern. Ihr Leben ist von Notwendigkeiten geprägt, aber sie finden eine stille Liebe. Doch der Berg, einst Arbeitsstätte für Zwangsarbeiter, trägt ungesagte Geschichten. Wer erinnert an sie, wenn der Berg vergeht?

Familienaufstellung

Schicksale wie das von Wentz‘ Urgroßmutter gibt’s in den Bergen Österreichs wie Steine in den Alpen (und im Rest des Landes vermutlich ebenso). Schweigen, das können wir hier auch recht gut. Den Blick aber in die eigene Vergangenheit zu richten und dem Ungesagten, vielleicht nur Gemunkelten bei der Gelegenheit auch auf den Zahn zu fühlen, und dann in so großartige Sprache zu verpacken, das gelingt den wenigsten. Die junge Dramatikerin ging sogar noch einen Schritt weiter. Wenn schon Familienaufstellung, dann aber auch richtig. Sie gibt dem Berg, in dessen Nähe sie selbst aufgewachsen ist, dem Eiblschrofen, eine Nebenrolle, die eigentlich auch eine Hauptrolle ist. Denn um den Berg, da zentriert sich in „Adern“ alles.

Es ist der Berg, der Rudolf (großartig Antony Connor) nicht zur Ruhe kommen lässt. Rudi und sein Freund Danzel (Theo Helm, hervorragend mäandernd durch alle Figurenlagen) machen sich schuldig. Sie wissen von den Zwangsarbeitern, die dort Flugzeugteile zusammenbauten, und vielleicht wissen sie sogar noch mehr. In albtraumhaften Sequenzen erinnert sich Rudi an das Unsagbare, das ihn quält und auch die Generationen nach ihm noch beschäftigen wird. Nichts Genaues weiß man nicht, der Text nähert sich diesem Vielleicht selbstbewusst an. Der Chor aus drei Schauspieler:innen (Jana Magdalena Rieger, Susanne Wende und Theo Helm) intensiviert die unausgesprochene Schuld, zieht diejenigen zur Verantwortung, die sich keinem weltlichen Gericht stellen müssen. Das hat mythologische Qualitäten, die Nähe zur Antike vermutlich Absicht.

Vorreiter

Überhaupt jongliert „Adern“ mit den Ebenen. Selten verweilt die Inszenierung in einer Perspektive. Entzückend süß und zugleich kassandrahaft bedrückend ist die Fortsetzung der Albträume in den kleinen Mädchen. Zuerst in Aloisias‘ Tochter, dann in der Enkelin – beide von Arianna Meschtscherjakov dargestellt. Es gruselt leicht, wenn das Kind von den Toten unter ihrem Bett spricht, den Schatten, die sie besuchen, oder den Berg selbst thematisiert, der dann eben doch runterkam. Und tatsächlich, Google weiß: 1999 ging aus der Westwand des Eiblschrofen ein großer Felssturz nieder. Nach dem Stück, da hat man es kommen sehen. Mythos und Realität werden eins, Vergangenheit und Gegenwart ebenso. Wenn Jana Magdalena Rieger, Susanne Wende und Theo Helm wieder zu ihrem Berg-Chor ansetzen, dann jagt es ein Schaudern über den Rücken.

Dieses unheimliche Element der unberechenbaren Natur und der harten Realität, das greift die Musik auf (Theo Helm). Schaurig schön die Szenenwechsel mit Gitarrenriffs, die die Leben von Aloisia (Daniela Meschtscherjakov) und Rudolf kreuzen. Meschtscherjakovs Führung der Figur ist hervorragend intensiv. Was Worte nicht artikulieren, spiegelt sich ausdrucksstark in ihrer Mimik und Gestik; eine starke Frau, der Zeit voraus, die die Dinge selbst in die Hand nimmt. Mit Rudolf hat sie ihren Gegenpart gefunden. Auch er ein außergewöhnlicher Fall für die Fünfzigerjahre. Priorisiert das Wohl der Kinder und pfeift auf das Gespött der Nachbarn. Antony Connor gibt ihn großartig, diesen Rudolf, den man sich heute auch gut mit Lastenrad durch die Stadt navigierend vorstellen kann. Man merkt, wie sehr einem das Pärchen mit ihrem stillen Glück und ihrer Einsilbigkeit ans Herz gewachsen ist, als einer gehen muss. Eine Stelle, die unglaublich emotional ist, gerade in ihrer Schlichtheit.

Berührende Figurenführung

Genau diese Reduktion ist die eindrücklichste Leistung von „Adern“: Sprachlich auf das Minimum heruntergebrochen, ist die Stille zugleich außerordentlich beredt. Das Nichtgesagte dominiert und will endlich gehört werden. Max Claessen belässt es in seiner Form und gibt ihm durch sein verdichtetes Bühnenbild viel Raum sich zu entfalten. Es sind die zerklüfteten Wände des Berges, die das Haus bilden – der omnipräsente Riese ist überall und mit ihm die selbst aufgeladene Schuld. Für das genügt ein Tisch, zwei Stühle, eine Blume und Schnaps, viel Schnaps. Eingefangen ist das österreichische Bergarbeiterbild (Ausstattung: Max Claessen, Licht: Marcel Busá). Die simple Zweisamkeit, das stille Annähern der beiden Protagonisten, berührt ebenso. Zugleich darf auch gelacht werden. Die Dialoge sind stellenweise herrlich pointiert, Lachen befreit – auch vom Berg, der über allem lauert und das Leben der Bewohner:innen prägt.

Jana Magdalena Rieger wechselt elegant zwischen der Stimme des Berges und der Tochter des Hauses. Mit Eifersucht kennt sich die kinderlose Hertha aus (biestig: Susanne Wende), die immer wieder auftaucht und der Schwester das bescheidene Glück neidet. Alles greift bei „Adern“ ineinander, selbst die Akzente des Ensembles, die zwar alles sind, aber nicht Tiroler Provenienz. Das macht aber nichts. Max Claessens Inszenierung kommt so stimmig daher, und das Nichtgesagte ist sowieso wie ein Babelfisch, der bekanntlich auch ohne Beinote spricht. In den Gesten und in der Stille wird die Vergangenheit greifbar und erhält Substanz. Vergessen sind die antiken Helden oder die Dramatiker der Weimarer Klassik: Das hier ist Theater, das endlich wieder jede Faser des Körpers berührt.

 

Fotonachweis: Jan Friese

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