Klug verpackte Zeit-Kritik aus der Feder von Amos Oz.
Mein Terminkalender ist mein ein und alles. Es handelt sich dabei nämlich nicht nur um einen simplen Terminkalender, sondern auch den Hüter meiner Literaturliste. Wir sprechen hier nicht von irgendwelchen Büchern, oh nein, weit gefehlt. Es handelt sich um Titel, die ich unbedingt lesen möchte. Ich feile ständig an ihr und nach jeder Zeitungslektüre scheint sie sich ein weiteres Stück zu verlängern. – Einen ganz speziellen Autor aus dieser Terminplaner-Reihe wollte ich mir letztens in der Bibliothek ausborgen: Amos Oz, dessen „Judas“ immer wieder durch die Wochenzeitung meiner Wahl geistert. Will ich lesen. Jetzt. Leider ist das nicht so einfach und natürlich ist „Judas“ dauerentlehnt. „Na gut,“ denke ich mir und wähle stattdessen einen der anderen, zahlreich vorhandenen Oz Romane aus.
Was wäre wenn auf einmal über Nacht alle Tiere verschwinden und keiner wüsste wohin? Und wenn dann über Jahre hinweg die Tiere immer mehr in Vergessenheit gerieten und später nachfolgende Generationen nicht einmal mehr wüssten, was Tiere überhaupt sind, da keiner der Erwachsenen je über sie spräche? Nun ja, fast niemand, weil in Amos Oz Märchen ist da ja noch die Lehrerin, die den Kindern zwar einbläut, dass sie niemals in den Wald gehen dürfen, aber ihnen zumindest beschreibt, wie die Tiere einmal aussahen und klangen. Früher… bevor sie eines Nachts ganz plötzlich das Dorf verließen. Eines wissen die Dorfleute allerdings ganz genau, die Schuld daran liegt bei Nehi, dem teuflischen Wesen, das in der Dunkelheit das Dorf heimsucht und alles Lebendige unter seinem Mantel verschwinden lässt. Jahre vergehen und dann sind da auf einmal zwei Kinder, die sich ein Geheimnis teilen, das sie niemanden zu erzählen wagen und die einen mutigen Entschluss fassen.
So umgab sie Spott, wie dunkler Schlamm, der sich im Wasser auflöst und es trübt macht. Doch Mati und Maja hatten sich schon freigegraben und waren auf der anderen Seite des Spotts herausgekommen. Eines Morgens standen beide sehr früh auf, und statt zur Schule zu gehen, stiegen sie geradewegs hinauf in den Wald. (51)
„Plötzlich tief im Wald“ ist zwar nicht „Judas“, dafür allerdings ein bezauberndes Märchen für Groß und Klein. In wunderbar poetischer Dichte schildert Amos Oz eine Gemeinschaft, die unserer Gesellschaft zwar vordergründig enthoben scheint, ihr aber erschreckend kohärent ähnelt. Das kann bisweilen etwas unangenehm sein, da vor allem die grausame Seite der Zivilisation spielerisch demaskiert wird. Nimi zum Beispiel, der kleine Junge, über den alle lachen und der selbst fleißig Öl ins Spott-Feuer gießt. Eines Tages ist er spurlos verschwunden. Nimi, so erzählt man sich, war im Wald. Als der Junge nach fünf langen Tagen wiederkehrt, scheint er wie verwandelt. Er hinkt, hat ein tränendes Auge und die Wieheritis; er spricht nicht mehr und wiehert nur noch. Grund genug für seine Familie, ihn auszustoßen. Die Dorfbewohner warnen ihre Kinder vor ihm; die Krankheit könnte ja ansteckend sein. Stattdessen wird Nimi jetzt noch mehr verspottet und läuft in der Nacht wiehernd durch Dorf und Wald. „Pit’om be-omek ha-ja’ar“, wie der Text im Hebräischen lautet, malt ein düsteres Bild seiner Zivilisation.
Vielleicht, weil der Spott die Spötter vor dem Alleinsein schützt? Weil die Spötter immer in Gesellschaft spotten und der, der den Spott hervorruft, immer alleine bleibt? (47)
Spott als Movens für ein Märchen, das sich einfach und klug mit einer Parallelgesellschaft beschäftigt, die literarisch enthoben, dennoch der modernen Gemeinschaft erschreckend ähnelt. Oz legt mit diesem vordergründig spielerischen Text den Finger erstaunlich zielsicher in eine Zeit-Wunde, die ihre Opfer in ganz neuem Licht erscheinen lässt. Entstanden ist dabei ein wunderbar poetisches Märchen, das fasziniert und begeistert. Fazit? Lesen!
Am Ende bleibt der Drang etwas zu ändern. Und das Bedürfnis noch mehr Amos Oz zu lesen. Wenn es denn schon nicht „Judas“ sein kann, dann bleiben zur Überbrückung ja noch ein paar andere Texte übrig.
Oz, Amos: Plötzlich tief im Wald. Ein Märchen. (Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler) Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006, S. 112.
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