Sind wir nicht alle ein bisschen Laborratte?!
In cieLaroques Uraufführung von AS FAR AS WE ARE gehen nicht nur die Performer*innen an ihre Grenzen: Sehr gelungen und mit dem gewissen Schmerzgrenzfaktor.
Pünktlich zum Herbst ist wieder tanz_house – Zeit. Die Festival-Kooperation verschiedener Choreografen*innen ist längst fixer Bestandteil des Salzburger Kulturprogramms. 2017 steht sie unter dem Motto „Fake“. An genau das Sujet tastet sich auch Helene Weinzierl mit ihrer Kompanie cieLaroque und der Uraufführung AS FAR AS WE ARE heran.
Was ist der Mensch und wie weit würde er gehen? Ist er real oder handelt es sich nur um Crash-Test-Dummies mit Drang zur Wand? – AS FAR AS WE ARE setzt mit seinem interdisziplinären und sozialpolitischen Zugang auf einen ähnlichen Ansatz wie die Vorjahresproduktion BLUFF. Wobei Helene Weinzierl ihre Choreografie in Kooperation mit den Performer*innen zuspitzte und sie das Menschsein auf besonders steinigem Weg erkunden lässt (Musik, Komposition und Arrangement: Oliver Stotz, Lichtregie und Technik: Peter Talhamer). Dafür ist die Bühne von Stühlen umrahmt und durchkreuzt. Dazwischen liegen Menschen – oder eben Crash-Test-Dummies. Zu harten, abgehakten Elektroklängen beginnen sie sich plötzlich zu bewegen. Anfangs sachte, später schnell und wild, zucken die Gliedmaßen scheinbar unkoordiniert in alle Richtungen. Jeder der vier Performer*innen hat seine eigene Choreografie, unterscheidet sich von den anderen. Erst nach und nach scheinen die Bewegungen koordiniertere Dimensionen anzunehmen, die entkoppelten ‚Humanoiden‘ aufeinander einzugehen und zu reagieren. Langsam schleicht sich das Gefühl von Struktur ein, von Parallelität und erzeugt eine trügerische Wahrheit.
It’s a hard knock life
Helene Weinzierl und ihre Kompagnie hätten es dabei belassen können: Botschaft erfolgreich vermittelt, Nachricht angekommen. Tun sie aber nicht. Tatsächlich war das erst die Aufwärmphase und wer davor das „interaktiv“ im Untertitel überlesen hatte, wird jetzt eines besseren belehrt (ups!). Auf einmal nehmen die vier noch ein wenig steifen Wesen Kontakt mit dem Publikum auf. Sehr zur Erheiterung der Ausgesparten – bis die ebenfalls an die Reihe kommen. Menschen werden wie Spielfiguren, oder eben Crash Test Dummies, verschoben, an der Hand genommen oder überredet. Meistens lassen sie es willig oder unter viel Gekicher über sich ergehen – niemand will den vordergründigen ‚Spaß‘ trüben. Andere stimmen sogar freudig ein und mischen sich kurzfristig unter die Performer*innen. Das ist auch wieder so eine Nebenwirkung von cieLaroque: Die Tänzer*innen sind Teil einer Inszenierung, die jeden Abend neu entsteht. Improvisation gehört bei Manuela Calleja, Uwe Brauns, Alberto Cisselli und Luan de Lima längst zum guten Ton. Spontan stellen sie sich auf das Publikums ein und befeuern die entfachte Kreativität. „The more, the merrier,“ ist verfasserin geneigt einzuwerfen. Wenn da nur nicht dieser schale Beigeschmack von gesellschaftlicher Determiniertheit wäre, der sich langsam in seinen Anfängen zu erkennen gibt.
Frankensteins Crash-Test-Dummy
Trotz aller Heiterkeit wird es spätestens dann unappetitlich, als Uwe Brauns unter Anleitung von Manuela Calleja als lebendes Versuchsobjekt herhalten darf: Von harmlosen Sperenzchen wie den fremden Kopf hin und her zu bewegen, arbeiten sich Alberto Cisselli und Luan de Lima zu ungustiösen Einsätzen wie mit der Zunge das Ohr des anderen zu bearbeiten oder in seinem Bauchnabel zu stochern vor. Längst schon ist ein Teil des Publikums moralisch ausgestiegen. Tatsächlich macht sich latenter Unmut breit, der in einer engagierten Zuschauerin kulminiert: „Warum macht ihr das?“, ruft sie den Darstellern*innen zu. „Könnt ihr damit nicht aufhören?“, setzt sie hinten dran. Die einzige Frau im Bunde lässt sich nicht beirren – schnell unterbricht sie ihre fragwürdige Liste an inkompatiblen Instruktionen zum Austesten der Grenze des Machbaren: „erkläre ich dir nachher, jetzt muss ich weitermachen!“. Und tatsächlich setzt sie sich kurz darauf zu der couragierten jungen Frau und scheint ihr die versprochene Antwort zu liefern. Freilich, wenn alles „fake“ ist – und das sind die Tänzer*innen im Moment des Spiels ja auch, dann erklärt sich der ‚Sinn‘ bereits von selbst – nämlich in seiner kritischen Absenz. (Die individuelle Antwort von Manuela Calleja hätte dennoch interessiert).
Neulich im Labor
Im Programm wird bereits angekündigt „Erforschen Sie Ihre Leidens- und Belastungsgrenze oder auf gut neoliberalisch: viel Erfolg. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihr Gewissen, Ihre Courage oder einfach Ihre*n Sitznachbarn.“ So gesehen bewahrheitet sich der fahle Nachgeschmack einer nur scheinbar heiteren, aber genial-perfiden Performance. Das Publikum wird zu gehorsamen Laborratten umfunktioniert. Mal mehr, mal weniger willig fügt es sich in die Crash Test-Serie ein. Am Ende hält Helene Weinzierl mit AS FAR AS WE ARE den Menschen also den eigenen Spiegel vor. Nicht die Performer*innen sind die Crash-Test-Dummies, sondern das Publikum selbst. Da scheint es passend, dass beim Schlussapplaus ein unbemerkter Seitenwechsel stattfindet.
Fotonachweis: P. Huber
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