Die MusikerInnen des Konzerthausorchesters Berlin betreten den Saal, begeisterter Applaus bricht aus. (Wie immer bei klassischen Konzerten für mich unerklärlicherweise am Anfang, noch ehe das Orchester überhaupt auf seinen Stühlen Platz genommen hat). Dann halten die eigentlichen Protagonisten Einzug: Panist Martin Helmchen und Dirigent Michael Sanderling, abermals unter großem Jubel. Routiniert nimmt Helmchen seinen Platz hinter dem Flügel ein (genau so einen, wie ich ihn früher übrigens auch immer besitzen wollte und erstaunlicherweise doch nie bekommen habe), der Dirigent hebt zum Konzert an. Wunderbar zart, sanft und klar ertönen die ersten zauberhaften Klänge von Beethovens Konzert für Klavier u. Orchester Nr. 1 C-Dur, op.15. Die Streicher streichen, die Bläser blasen und der Taktstock schwebt durch die Luft. Herrlich mischen sich die Klaviertöne in den illustren Klangreigen ein. Ich bin, zugegeben, sprachlos. Selten hat mich ein Konzert so schnell berührt und wusste ich bereits nach den ersten Tönen, dass hier Magie zelebriert wird. Ich verliere mich gerade in der Musik und bin eben im Begriff vollends in der Melodie zu versinken, da werde ich [WRUMS] mehr als unsanft zurück in die Zuschauerreihen des Festspielhauses befördert. „Sie hat jetzt nicht wirklich, oder?“ schießt es mir fassungslos durch den Kopf, während meine Ohren die Quelle des Anstoßes ausfindig zu machen versuchen. (Mitunter ist es eher nachteilig, wenn das Gehör wirklich einwandfrei funktioniert). Ich lasse meinen Blick in die vermutete Richtung schweifen und werde bestätigt. Sie hat doch. Verwundert und sehr erstaunt beobachte ich das circa 16jährige Mädchen schräg vor mir, das gerade emsig damit beschäftigt ist (pünktlich während der ersten Takte von Beethovens Klavierkonzert – davor war sie vermutlich zu sehr beschäftigt mit Plaudern) an ihren schwarz-weiß getupften Fingernägel herumzuzupfen. Und das geschieht nicht geräuschlos; sie fabriziert dabei dieses wirklich unangenehme und latent ekelhafte Geräusch eines Nagelknipsers. Das bedeutet Gänsehautgefühl pur. Nein, ich will zurück und in Beethovens Klavierkonzert eintauchen, dessen wunderbare Klänge immer noch durch den Saal schweben. Mühsam schaffe ich endlich das Mädchen und seine bunten Nägel auszublenden, indem ich mich voll auf das Konzerthausorchester und Helmchen fokussiere. Fabelhaft, ein grandioses Konzert; gerade als ich mich wieder verliere, [WRUMS] werde ich einmal mehr in die Realität zurückgeholt. Etwas vor mir flattert. Der Vater des circa 16 jährigen Mädchens hat mittlerweile damit begonnen, mit seinen Fingern den Pianisten auf einem imaginären Flügel zu begleiten. Und dieses kleine Spektakel vollzieht sich genau vor meinen Augen, ich sehe seine Finger unter seiner Nase in der Luft springen und bin irritiert. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. – Nach der Pause haben sich Vater und Tochter wieder beruhigt. Jetzt steht eigentlich Dimitri Schostakowitsch‘ Symphonie Nr. 5 d-Moll, op. 47 nichts mehr im Weg. Schööön, wenngleich mir tatsächlich Beethoven noch eine Spur besser gefällt. Schostakowitsch‘ Symphonie ist für mich dann doch einen Tick zu unruhig, allerdings bleibt diesmal genug Muße, einer meiner Lieblingsbeschäftigung bei Konzerten zu frönen. Vermutlich demaskiere ich mich jetzt unabsichtlich als Barbarin (die ich übrigens nicht bin), aber wer hat schon einmal den ganz kleine Details bei Konzerten große Aufmerksamkeit gewidmet? Es ist unglaublich amüsant zu beobachten, wie alle Geigenbögen immer alle auf einmal in die Luft schießen; wie die Stacheln von Bienen oder das plötzliche Auffliegen eines Vogelschwarms. Mindestens genauso faszinierend ist es, zu beobachten, wie alle GeigerInnen unvermutet damit beginnen, ihre Instrumente zu zupfen. Von oben betrachtet birgt das einen gewissen surrealen Aspekt. Beinahe wie ein Feld, über das ein unruhiger Wind weht. Oder wie Popcorn in der Pfanne. Je größer das Orchester, umso gigantischer das visuelle Konzert.
Pünktlich zum Schluss läuft dann wieder eine Stampede durch den Saal und ruft der Mann aus der Loge „Bravo!“, der bei jedem Konzert sein „Bravo!“ aus der Loge ertönen lässt. Ein rundum gelungener Konzertabend. Und da sage noch einmal einer, dass klassische Konzerte nicht unterhaltsam wären.
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