Josua Rösing gelingt es, das Publikum mit seiner Inszenierung von “Der Besuch der alten Dame” ganz in den Bann des Klassikers zu ziehen – klug gekürzt, in der Gegenwart angekommen (Regieanweisung: check) und trotzdem mit einem Hauch Sophokles.
Wie viel ist ein Menschenleben wert? Für Claire Zachanassian genau eine Milliarde. So viel Geld ist die alte Dame bereit, locker zu machen, wenn die Einwohner des heruntergewirtschafteten Städtchens Güllen einen der ihren dafür töten – Alfred Ill. Mit Alfred hat die reiche Claire, ehemals Klärchen und Ex-Güllenerin, noch eine Rechnung offen. So weit, so bekannt: Am Salzburger Landestheater inszenierte Josua Rösing den Recht- und Gerechtigkeitsklassiker von Friedrich Dürrenmatt als spannendes Kammerspiel – trotz oder gerade wegen des überschaubaren Personals und der reduzierten Bühne.
Antikes Vorbild
Was als Inszenierung so harmlos daherkommt, führt ebenso in die Irre wie die titelgebende Protagonistin in den ersten Szenen. Von Dürrenmatt als analytisches Drama nach dem Vorbild von Sophokles’ „König Ödipus“ konzipiert, verleiht das Kreativteam (Regie: Josua Rösing, Dramaturgie: Friederike Bernau) dem Stück mit einer gelungenen Verdichtung frischen Schwung. Die Dialoge speisen sich aus Regieanweisungen und Figurenreden, und die Schauspieler:innen oszillieren elegant zwischen den Ebenen. Mal agieren sie als Erzähler:innen, mal stehen sie mitten in der Handlung. Auf diese Weise gewinnt „Der Besuch der alten Dame“ an frischem Charme, ohne seine Zeitlosigkeit einzubüßen. In den späteren Szenen dominiert schließlich die reine Figurenrede.
Der Claire-Zachanassian-Effekt
Unterstützt wird die kluge Dialogstrategie durch die musikalische Untermalung (David Riaño Molina) und ein extrem verknapptes Bühnenbild (Vanessa Habib). Durch diese Ausstattung erfährt das Spiel eine Wirkung, man möchte es den Claire-Zachanassian-Effekt nennen, die sehr subtil ihre Tiefe entfaltet. Dann nämlich, wenn sich peu à peu das gelbe Element in seiner Mitte einschleicht – und mit ihm die Verblendung der Güllener. Was für eine stimmige Analogie. Mit dem Eintunken der Produktion in die Farbe Gelb, vom Bühnenboden bis zum Bühnenhimmel, schlägt auch schon die Stunde von Klärchens Rache.
Der Triumph der Verblendung erreicht seinen Höhepunkt: Die Überlebenden und Weiterwurstelnden, die für ihren Wohlstand buchstäblich über Leichen gehen, feiern sich in dieser Kontrafaktur eines sophokleischen Chorliedes selbst – und das höchst eindrücklich. Lisa Fertner, Tina Eberhardt und Axel Meinhardt durchleben als Güllener sämtliche Höhen und Tiefen und stellen sich selbst so gelungen als personifizierte Opfer dar, dass sich fast Mitleid einschleichen möchte – würde man es nicht besser wissen.
Das Ensemble: Der Besuch der alten Dame
Christoph Wieschke verleiht seinem Alfred Ill eine stolze Note, die vom Verlegenen ins Ungläubige und schließlich ins Resignierte kippt. Mit dem stolzen schwarzen Panther, wie ihn Claire Zachanassian einst nannte, hat er nicht mehr viel gemein. Dafür beginnt er in der Not zu bereuen – fast wie Gretchen in „Faust“. Der „ist gerettet“-Chor lässt allerdings auf sich warten (und ist vermutlich noch im Haupthaus des Landestheaters zugange…).
Wunderbar abgebrüht und illuster stellt KS Britta Bayer ihre Claire Zachanassian in den Mittelpunkt. Aber auch Matthias Hermann leistet in diversen Rollen großartige Arbeit. Dasselbe gilt übrigens auch für Tina Eberhardt, die mit spielerischer Leichtigkeit durch ihr vielschichtiges Repertoire wechselt, und gemeinsam mit Lisa Fertner und Axel Meinhardt das Volk, nun ja, rockt. So macht „Der Besuch der alten Dame“ Freude, und Josua Rösing gelingt es, das Publikum mit seiner Inszenierung wieder in den Bann des Klassikers zu ziehen – klug gekürzt, in der Gegenwart angekommen (Regieanweisung: check) und trotzdem mit einem Hauch Sophokles.
Fotonachweis: Salzburger Landestheater | Christian Krautzberger
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