Und Darwin wusste es doch besser
Ein Regisseur wählt willkürlich Schauspieler*innen und Regisseur*in, steckt die inkompatiblen Parteien in eine Arena, wirft ihnen das Textbuch zu und schaut, was passiert. – GRETCHEN 89FF kreiert pointiert und höchst amüsant Archetypen der künstlerischen Zunft.
Während der Vorstellung ist vor der Vorstellung – deshalb nimmt ein Trend Kontur an: Immer häufiger richten Inszenierungen einen selbstironisch-inversen Blick auf das eigene Proben-Geschehen. Tatsächlich ist die darstellende Kunst mittlerweile Meisterin in der schwarzen Selbst-Persiflage. Aktuellstes Opfer: Das Kleine Theater in Salzburg. Dort erobert die Theater Transversale mit GRETCHEN 89FF das Publikum.
Dreh- und Angelpunkt der nomen est omen-Produktion ist die berühmte Gretchen-Szene aus Faust I – Reclam-Heftlein Seite 89ff. Margarete erhält gerade von Faust das Schmuckkästchen und scheint dem Untergang geweiht (der „Ist gerettet!“-Rettungsring fliegt erst auf der allerallerletzten Seite im vorvorletzten Vers). Um die signifikante Szene drapierte Daniela Meschtscherjakov (Regie) die wunderbar humorigen Figuren aus Lutz Hübners Komödien-Streich GRETCHEN 89FF. Was eingangs an Carl Gustav Jung und Vladimir Propp erinnert, gewinnt an erstaunlicher Stringenz: Es gibt sie wirklich! Am Theater sind die Archetypen längst gängiger Alltag.
Kurz vor dem humoresken Bühnen-Kollaps
Rasch wird klar, Bina Blumencron und Gerhard Greiner wissen ziemlich genau, von was sie da gerade spielen. Mit ihren liebevoll pointierten und augenzwinkernd bösen Darstellungen packen sie ihr Publikum deshalb auch bereits in der ersten Minute und lassen es nicht mehr los. Da ist zum Beispiel der köstlich verschrobene „Hospitant“ (G. Greiner), eigentlich ein Germanistik-Student, der in seiner Freizeit mit Vorliebe Haikus schreibt und bei den Proben stumm vor Ehrfurcht den Dingen harrt. Nicht nur der versierten Schauspielerin (B. Blumencron) bleibt da die Spucke weg. Zuerst nonchalant, später fassungslos beobachtet sie, wie sich der devote Fußabstreifer des Regieassistenten stockend in Logorrhoe’sche Ekstase stammelt und beinahe explodiert. Zum Glück verlässt die Abgebrühte davor fluchtartig den Raum. Im nächsten Moment oszilliert G. Greiner zum cholerischen Regisseur, der zu kinski-artige Schreianfälle tendiert, bei denen nicht nur Birgit Kowalski (B. Blumencron) die Ohren schlackern. Mit köstlichen Stimm- und Mimikübungen erheitert indes der Archeteypus der „Neo-Schauspielerin“ (B. Blumencron – natürlich), die für ihre Gretchen-Rolle intensiv die Architektur des 18. und 19. Jahrhunderts studierte und den künstlerischen Leiter mit ihrer, nun ja, sehr engagierten Eigeninitiative beinahe zur Verzweiflung treibt – Lachanfälle sind selbstredend vorprogrammiert. Absolut gute Laune provoziert aber auch der „Freudianer“, der selbst im Faust’schen Kästchen noch ein Phallus-Symbol vermutet und das Gretchen zu mehr Laszivität auffordert. Wienerisch kokettiert das „Tourneepferd“ unter den Regisseuren (G. Greiner): Im Walzer-Schritt und mit sehr viel Kieksen soll Margarete die Bühne erobern. Sein tatsächliches Ziel ist es aber, die Proben abzukürzen, um möglichst schnell zum versprochenen „Kaffeetscherl“ zu kommen. Bei so viel Lachtränen-Potential ist es nicht verwunderlich, dass GRETCHEN 89FF mit Pauken und Trompeten das Grande Finale einläutet. Dort geben sich die „Diva“ und der „debütierende Regisseur“ ihr Proben-Stelldichein – ein Dream-Team ganz sicher nicht made in heaven. Vielmehr kann von tieferen Gefilden ausgegangen weden; im biblischen Sinne heiß, bei Dante eisig. Das Resultat ist das gleiche – die Diva brüllt und reißt das künstlerische Zepter brachial an sich. Der Vorhang fällt. Wie schade, der kurzweilige Abend hätte gerne noch länger währen dürfen. Ach was, müssen!
Die Moral von so viel Bühnen-Leidenschaft? Theater mag mitunter ein kleines Schlachtfeld sein, aber immerhin entpuppt es sich als äußerst menschliches… 😉
Fotonachweis: Theater Transversale (Beitragsbild) & Martin Brunnemann (Szenen)
by