Sommerfrische in Mannheim.
Joerg Steve Mohrs Inszenierung des WEIßEN RÖSSLS holt den Operettenklassiker als Musical nach Baden-Würtemberg: humorig, frech und gelungen anders.
Um ein österreichisches Nationalheiligtum nach Baden-Württemberg zu verfrachten, bedarf es erstaunlich wenig: Ein „Weißes Rössl“-Schild, das von einem weißen Hirschkopf geziert wird. Hirschkopf? Richtig. Es könnte sich allerdings auch um ein vielhörniges Pferd handeln oder einen simplen biologischen Zufall. Zweifelsfrei steht aber fest, in Kombination mit den rustikalen Wirtshaus-Anleihen, dem Vogelgezwitscher aus dem Off und der einen oder anderen Schiffshorn-Einspielung kreierte Joerg Steve Mohr (Regie) schon vor Vorhangfall eine Atmosphäre, die den Heilewelt-Zauber des Weißen Rössl aus dem Nichts heraufzubeschwören vermag und für die Dauer des Stücks bewahrt (Bühne und Kostüme: Ruth Miller).
In aller Plot-Kürze
Im Weißen Rössl am Wolfgangsee schwärmt Zahlkellner Leopold ganz ungeniert für die schöne Rössl-Wirtin Josepha. Die will aber so gar nichts von den romantischen Ambitionen ihres Personals wissen und verbittet sich jegliche Annäherungsversuche. Das hält den verliebten Leopold nur bedingt auf Distanz. Dann kommt bereits die nächste Fuhre Sommergäste an: Bald schon ist das Chaos um die ganz großen Gefühle aller Beteiligten perfekt.
Musik liegt in der Luft
Das war es dann aber auch schon fast wieder mit den nostalgischen Reminiszenzen in Richtung altehrwürdigem Operetten-Original. Vielleicht ist bereits das vielhörnige Pferd ein Zeichen, dass IM WEISSEN RÖSSL in Mannheim der Dampfer volle Fahrt auf leichtfüßige Neuinszenierung nimmt, ohne dabei ins schrille Extrem oder avantgardistische Nonsens zu kippen. Stattdessen schlägt der österreichische Fin de Siècle-Kalauer in der Mannheimer Moderne eine 180 Grad Wendung ein: Daniel Prandl (musikalische Leitung & Piano) ließ seiner Kreativität an den bekannten Kompositionen freien Lauf. Entstaubt und frisch poliert punktet das Repertoire mit jazzigen Anleihen und spannenden Variationen, die Spaß machen und auch nahtlos im Zeitgenössischen anknüpfen. Spaß hat allerdings nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker auf der Bühne. Als gar nicht so urige Hausmusik begleiten sie das Ensemble durch den Abend und kippen das eine oder andere Gläschen mit dem liebeskranken Leopold.
Rolle in der Rolle
Es muss einfach raus: Die Dirndl-Kollektion der Rössl-Wirtin scheint Marke ‚Supermarkt‘ und treibt jeder Österreicherin die Schweißperlen auf die Stirn und den Puls in unangenehme Höhe (Bühne, Ausstattung, Kostüme: Antonia Schmitz, Caecilia Neuweiler). Gleichzeitig eilen ironischerweise just die Plateau-Hacken zur Ehrenrettung herbei; Josephas wunderbar selbstsichere Highheels-Performance stimmt milde und versöhnt mit dem Dirndl-Gate. Chapeau für so viel unfallfreie Grazie und humorige Eloquenz: Bei Céline Bouvier (dem Alter Ego von Markus Beisel und damit der Rössl-Wirtin) sitzt jeder trockene Seitenhieb und am Ende perfektioniert sie ihn sogar selbst, den gefürchteten Kuhblick, den sie beim Zahlkellner eben noch leidenschaftlich monierte.
Leopold ist die Rolle im WEIßEN RÖSSL, auf die alles blickt. Da musste für das passende Lokalkolorit selbstverständlich ein Österreicher her. Aris Sas zelebriert als Quoten-Österreicher die Rolle des schmachtenden Paradekellners mit jeder Menge Dialekt, Humor und großem Gefühl. Die oft beanstandeten Kuhaugen sitzen, wenn Josepha zum sprichwörtlichen Schlag ausholt und Leopold für seine vorlauten Reden eine Ohrfeige verpasst. Der strahlt daraufhin allerdings über das ganze Gesicht. Glückselig hält der hoffnungslos Verliebte seine Wange, die er wohl nie wieder waschen wird. So sieht sie also aus, die Liebe, die an Hingabe schwer zu überbieten sein dürfte und unglaublich rührt.
Betrunkenes Geständnis
Ein bisschen Operette darf es IM WEIßEN RÖSSL in Mannheim dann aber doch sein. Aktuelles politisches Geschehen fließt ein, wenn Leopold voller Liebeskummer und hackedicht die Regierung bejammert und beschließt, demnächst selbst zu kandieren. Dem Betrunkenen glaubt man es gern, wird seiner Spezies ohnehin ein Hang zur Wahrheit nachgesagt. Der Kaiser (Hugo Steegmüller) selbst macht es seinem Untertan dann nüchtern gleich nach und streut die eine oder andere Spitze gegen den aktuellen FPÖ-Skandal ein. Der Saal goutiert so viel Eigeninitiative freudig – genauso wie Leopolds Geplänkel mit dem Piccolo (Denis Bode). Selbstbewusst weist er den jungen Kellner-in-Ausbildung in die hohe Kunst des Service anno dunnemals ein. Der entpuppt sich als erstaunlich gelehriger Schüler und avanciert rasch zum geistigen Ebenbild Leopolds und heiteren Sidekick der Produktion.
Himmelblaue Hybriden
Ganz neu kommt in Joerg Steve Mohrs Inszenierung die Rolle des Dr. Siedlers daher und erinnert dabei erstaunlich an den Schönen Sigismund; ein echter Hybrid also. Felix Heller lässt ihn breitbeinig und machohaft über die Bühne spazieren. Das lange Wallehaar immer wieder kokett über die Schulter geworfen, vermischt sich bei Dr. Siedler feminine Gestik mit Testosteron-Gehabe; arrogant geht er in die Charme-Offensive und stimmt ein erstaunlich verliebtes „Die ganze Welt ist himmelblau“ an. Sein weibliches Pendant Ottilie (Bianca König) geizt selbst nicht mit Charme und gebietet dem Macho auf Freiersfüßen zumindest für fünf Minuten ernsthaften Widerstand. Ihre finale Empörung lässt erahnen, wer in dieser Ehe dann tatsächlich die Hosen anhaben wird. Tipp: Es ist kein Dr. Siedler.
Die Kulisse wird durch liebevoll drapierte Vorhang-Berge pittoresk aufgehübscht. Wenn Hartmut Lehnert als Giesecke seinen imposanten Bauch auf selbigen hievt, scheinen die Alpen tatsächlich zum Greifen nahe. Ambitioniert und gut gelaunt präsentiert Hartmut Lehnert die Berliner Schnauze und zelebriert sie mit Ausdauer und Liebe zum Detail. Besonders kurzweilig die sprachlichen Differenzen zwischen Nord und Süd oder Giesecke und Leopold. Mindestens genauso gelungen der reisefreudige Hinzelmann, dem Dr. Markus Weber eine so rührend, zerstreute Note verleiht, dass die Figur trotz kurzer Bühnendauer für Eindruck sorgt. Als Topf und Deckel entpuppen sich das lispelnde Klärchen (Kati Sommer) und der hyper-charmante Sigismund (Rino Galiano). Sie, weil sie ihren Sprachfehler schüchtern-konsequent durchzieht. Er, weil er – ganz Rollentradition – nicht dieses überirdisch schöne Geschenk an die Menschheit ist, für das er sich selbst gemeinhin hält. Stattdessen verfügt er aber über erstaunlich viel Herz.
Alles neu macht Mannheim
Man ahnt es vermutlich bereits: Die Verkuppelungs-Quote ist beim WEIßEN RÖSSL so hoch, dass sie die Tinder-Konkurrenz ziemlich blass aussehen lässt. Dass das Ganze sogar noch heute abseits von Operetten-Junkies und Weiße-Rössl-Hardcore-Fans funktioniert, dürfte der Slapstick-reduzierten-Fassung gezollt sein, mit der Joerg Steve Mohrs Produktion eine ganz eigene Ausrichtung erhält. Humortechnisch auf ein intelligentes Level reduziert, mit dem einen oder anderen modernen Touch versehen, ist es immer noch da – das alte Rössl, aber gelungen entstaubt. Und das, das funktioniert trotz einiger Längen gegen Ende hin sogar fernab des Salzkammerguts in ‚Mannem‘.
Fotonachweis: Thomas Henne
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