Musical trifft Oper lautet das Motto der Uraufführung von IN 80 TAGEN UM DIE WELT ODER WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL am Musiktheater in Linz.
Eigenes Werk – eigene Regeln. Und 1 + 1 = 2.
Jeder kennt Jules Vernes abenteuerlichen Roman über Phileas Fogg, der mit seinem Kontrahenten Stuart eine folgenreiche Wette abschließt. Fogg schwört darauf, dass es ihm gelingt, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Was heute tatsächlich sehr viel schneller möglich wäre, gestaltet sich Ende des 19. Jahrhunderts noch ein klein wenig schwieriger. Zu diesem Zeitpunkt flog es sich noch nicht so einfach von A nach B. Eigentlich flog es sich überhaupt noch gar nicht, die ersten Flugapparate befanden sich erst in ihrer Entstehungsphase. Nein, per Schiff lautete das kontinentale Zauberwort. Da es Fogg (vornehm britisch Alen Hodzovic) aber, diesem pragmatischen Gentleman mit Faible für die Mathematik, tatsächlich gelingen könnte, den verrückten Versuch von den 80 Tagen zu bewerkstelligen, will Stuart (Mark Sampson) kein Risiko eingehen. Er schickt dem noblen Engländer die clevere Fionula Fix hinterher (wunderbar ambivalent, vokal klar und versiert Daniela Dett); ihres Zeichens windige Detektivin und in Kampfkünsten höchst bewandert. Außerdem ist Fix in Vernes Vorlage eigentlich ein Mann. Nachvollziehbar. Wir erinnern uns an den zeitlichen Rahmen. Aber in Linz ist alles anders. Denn IN 80 TAGEN UM DIE WELT ODER WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL? entpuppt sich als voluminöses und imposantes Auftragswerk (Musik und Orchestrierung: Gisle Kverndokk, Libretto: Øystein Wiik, Inszenierung: Matthias Davids). Konsequenterweise bedeutet die Uraufführung auch: eigenes Werk – eigene Regeln. Die Figur des Passepartouts darf trotzdem bleiben; der quirlige Franzose ist Foggs vergnüglicher Sidekick (Rob Pelzer als idealer Buffo), der seinem Herrn aus so mancher brenzeligen Situation manövriert oder diese eben erst verschuldet.
Rollentausch im Weltentheater.
Das Bühnenbild ist absolut sehenswert. Eine große Weltkarte erinnert an die Zeichnungen von Leonardo da Vinci und ist digital kompatibel. Projektionen ergänzen das monidale Arrangement. Die ausgeklügelte Choreografie sorgt dafür, dass ProtagonistInnen und Ensemble in einfallsreichen Kostümen auch noch so jeden kleinen Zentimeter auf, unter, neben und in der Welt-Ausstattung nutzen. Tatsächlich lässt sich die Erde als Scheibe je nach Bedarf in fantastische Requisiten umwandeln und beschreiten (Bühne und Videodesign: Hans Kudlich, Choreografie: Simon Eichenberger, Kostüme: Susanne Hubrich).
Durch den Abend führen Punch und Judy, zwei umtriebige Puppentheaterfiguren, die ursprünglich der Commedia dell’arte entlehnt wurden und sich im englischen Sprachraum großer Beliebtheit erfreuen. Eigentlich sollten sie eingangs mit ihrer Mini-Bühne auf der großen Bühne nur die Besucher*innen bespaßen, die eigene Begleitung scheint die Intentionen des Regisseurs allerdings nicht zu teilen. Vielmehr drängt sich ihr bereits der Polizei-Notruf auf, da Mr. Punch seine Rezeptionsgeschichte und den eigenen Namen (= jmd. schlagen) gar zu wörtlich nimmt. Zugegeben erscheint das Duo Infernal an dieser Stelle redundant. Spätestens wenn sich Punch und Judy aber als personifizierte Anthropomorphisierungen in das Geschehen werfen, verliert der Prügel seine archaische Funktion und kratzt jetzt höchstens noch Mr. Punchs Rücken. Zugleich wird das schrille Pärchen mit gänzlich neuem Sinn aufgeladen. Wie puppenartigen Schicksalsgött*innen mischt es sich in den Handlungsverlauf und navigiert „seine“ Figuren geschickt durch das Musikstück.
Musical meets Opera
Als ganz und gar wunderbare Idee erweist sich die Symbiose von Oper und Musical. Die zwei Genres, deren Anhänger*innen gerne spinnefeind sind, werden in IN 80 TAGEN UM DIE WELT ODER WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL? zu einem großen Ganzen verwoben.
Die Musik wurde eigens für das Linzer Auftragswerk komponiert und verspricht so einiges an Ohrenfreuden (Bruckner Orchester Linz, musikalische Leitung: Stefan Diederich). Tatsächlich passen in so ein Musical sehr viele Opernzitate. Fogg und Passepartout treffen auf ihrer abenteuerlichen Reise auf Hanna Glawari, die lustige Witwe aus Léhars Operette. Passepartout schleust Fogg auf ihr rauschendes Fest ein, während Judy und Punch den Grafen Danilo höchst humorig den Zutritt verweigern. Ritsch-Ratsch – Kostüm ab. In Rom will sich eigentlich Tosca nach dem Mord an Scarpia von der Engelsburg werfen. Leider ist das genau der Moment, den auch Fogg und sein fideler Diener wählen. Natürlich kann Fogg nicht einfach bei Toscas Selbstmord zusehen; stattdessen fängt der tendenziell weltfremde Brite die stattliche Tosca zum Amüsement des Publikums mit beiden Armen auf. Und wird dabei beinahe selbst erdrückt. Kurz darauf landet Fogg allerdings durch eine kleine, aber feine Intrige von Fionula, die den beiden Weltreisenden immer dicht auf den Fersen ist, in einem Kerker. Dort besingt er melancholisch düster „Gott, wie dunkel hier!“ als sich aus jener Düsternis eine andere Stimme mit „hey, das ist mein Text“ zu Wort meldet. Florestan aus FIDELIO ist also auch hier und findet Foggs Text-Anmaßung wenig erbaulich. In China lässt – tai bang le – Turandot nicht lange auf sich warten. Es steht zu befürchten, dass bald Köpfe rollen könnten oder zumindest einer. Denn der so eben an Land gespülte Passepartout wird der holden Kaugummi kauenden Prinzessin vorgeführt und gezwungen, ihre berühmt-berüchtigten Fragen zu beantworten. Der Kopfschmuck der Prinzessin verleiht dabei keineswegs Optimismus; kleine Totenschädel und Knochen baumeln höchst munter auf Turandots Haupt. Am Ende ist es übrigens der Fliegende Holländer, der das mittlerweile zum Quartett angewachsene Reiseteam von San Francisco nach London bringen soll. Der Preis dafür ist hoch. Zu hoch?
IN 80 TAGEN UM DIE WELT ODER WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL? ist kein Stück, das sich eben so und im Vorbeigehen konsumieren lässt. Fein abgestimmte Melodien, Motive, Zitate und Handlungsstränge buhlen um die Aufmerksamkeit der Besucher*innen. Es ist ein Stoff, der belohnt. Grenzen werden überwunden und konträre Bereiche verbunden. Groß die Freude bei Erkennen gängiger Motive und Wiederentdeckung nie richtig zu geordneter musikalischer Stücke. Nur das mit der Länge wird spätestens im zweiten Akt zu einer gewissen Herausforderung. Übrigens nicht nur, wenn frau ein ewig rutschendes Kind neben sich weiß, das die gesamte Bestuhlung in ihrer Reihe zum Wackeln bringt. Der eine oder andere Strich wäre von Vorteil, selbst wenn es vermutlich schwerfallen dürfte, sich auch nur von einem der originell drapierten Opern-Zitat zu trennen. Angebot zur Güte: Einfach weniger ausführlich in Abhandlungen über die Liebe ergehen und die Protagonist*innen schneller auf den Punkt gelangen lassen. Dann wäre vielleicht sogar noch eine Oper mehr möglich.
Aber auch so ist IN 80 TAGEN UM DIE WELT ODER WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL? die ziemlich gelungene Uraufführung eines neuen Musicals, das auf dem beinahe gleichnamigen Abenteuerroman von Jules Verne basiert. Es sei der Produktion zu wünschen, dass sie mindestens genauso erfolgreich in die Annalen eingehen wird.
Fotonachweis: Barbara Pálffy // Landestheater Linz
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