Dávid Paška inszenierte „1984“ und holt die Dystopie in die Gegenwart – mit weitreichenden Folgen. Eine Inszenierung, die nachwirkt, vor allem nach Vorhangfall.
Big Brother, verschoben! Diese Ironie muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Just das Spiel um den gläsernen Menschen musste vergangenen Herbst vertagt werden. Jetzt durfte der Überwachungsstaat endlich Premiere feiern und zeigt sich in der knackig-kurzen Inszenierung von Dávid Paška in neuem Gewand (Tabea Baumann nach George Orwell). Das ist stringent, schließlich war „1984“ zu seinem Entstehungszeitpunkt 1948 noch ferne Zukunftsmusik. Doch wie das halt so ist mit Dystopien von Schriftsteller:innen, die selbst schon zu viel erlebt haben, beweisen sie oft erstaunliche Akkuratheit. George Orwell war ein Paradebeispiel seiner Zunft; eine Kassandra, die sich vielleicht nur um ein paar Jährchen vertippt hatte. Die sind inzwischen aufgeholt. Regisseur Dávid Paška machte also das Naheliegende und legte noch ein Scherflein Aktualität nach, belässt die Produktion ausstattungstechnisch aber in einem zeitlich nicht näher definierten Raum. Wer hat Angst vor KI?!
In aller Plot-Kürze
In „1984“ ist Freiheit wie ein Fisch im Aquarium – schwer zu finden und leicht zu übersehen. Winston Smith, ein unbescholtener Bürger von Ozeanien, jongliert zwischen der „Partei“ und einer verbotenen Liebe mit Julia, einem Akt der Rebellion in einer Welt, in der Zuneigung ein Staatsverbrechen ist. Als er beginnt, die vermeintliche Wahrheit zu hinterfragen, gerät er in ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel mit Big Brother und dessen Schachmeisterin O’Brien.
Denkmanipulation
Das Auffälligste an Dávid Paškas Inszenierung ist, abgesehen von der starken Verdichtung der Dramatisierung, das Bildnis der gläsernen Hölle auf engstem Raum. Hinter großen Plastikfenstern (und manchmal auch davor) wird das Leben in der absoluten Hörigkeit zelebriert, das es ein Grausen ist. Eindrücklich die Chorszenen, die die treuen Staatsdiener und Staatsdienerinnen zu infantilen Nachplapperern degradieren (Enrico Riethmüller, Johanna Egger, Johannes Hoffmann, Wolfgang Kandler). Umso stärker das atemlose und anfangs nur leise Aufbegehren von Winston Smith, den Johannes Hoffmann großartig energetisch durch alle Höhen und Tiefen treibt, der sich ständig verändernden Wahrheit dicht auf den Fersen.
Der Fokus von Tabea Baumanns Dramatisierung richtet sich aber auch auf die Sprache. Die Orwell’sche Denkmanipulation wird in all ihren Facetten gefeiert. Mit vollem Stimmeinsatz skandieren die Schauspieler:innen die Hassrituale oder recken die Hände gen Himmel zum Führer, äh, pardon, Big Brother Kult. Mindestens genauso genüsslich dekonstruiert Syme (Wolfgang Kandler als treuer Jünger, der dann doch vom Staat einkassiert wird) die Sprachlichkeit und erweitert sie mit sichtlichem Vergnügen. Verneinungen sind unerwünscht und Antonyme kennt Neusprech nicht. So wird aus „Nein“ ein „unja“ und „kalt“ wäre dann konsequenterweise ein „unwarm“. Minus verständlich? Die Logik geht auf, und zugleich zieht da wieder dieses Frösteln durch den Saal. Entsprechend düster die Beleuchtung, die stellenweise auch das Publikum erwischt. Das verleiht der Produktion etwas Verhörhaftes und zwingt die Besucher:innen in die Komplizenschaft (Bühne: Julius Leon Seiler, Licht: Marcel Busá).
Alles für die Partei: „1984“
Und trotzdem sind die Handlungssprünge eine Herausforderung. Realität und Vergangenheit ändern sich wie die Rollen der Schauspieler:innen – im Minutentakt. Mehrfachbesetzungen gehören zum guten Ton. Damit entspricht „1984“ dem Zeitgeist; Soziale Medien und die Schnelllebigkeit haben längst für einen Riss im Wahrnehmungskontinuum gesorgt. Fake-News und Meinungsmache infiltrieren unsere Gedanken, wie das sonst eigentlich nur Big Brother in Orwells Dystopie konnte. Sein düsteres Konzept greift Dávid Paškas Inszenierung mit Tabea Baumanns Dramaturgie sehr gelungen auf. Das ist zwar nicht immer auf den ersten Blick sofort wahrnehmbar, aber – gruselig genug – wirkt erstaunlich intensiv nach.
Besonders entzückend, die Naivität, die Enrico Riethmüller seinem Parsons angedeihen lässt. Der schwärmt von seinen klugen Kindern, die ihre Gegenüber in regelmäßiger Manier an Big Brother verraten und am Ende auch den Vater ans Messer liefern werden. Das tut Parsons guter Laune keinen Abbruch. Fast. Auffällig oft wird sich in „1984“ nach nicht vorhandenen Rasierklingen erkundigt. Mit zackigen Schritten paradiert indes O’Brien über die Bühne, die Christiane Warnecke auf ein Mindestmaß an Gefühlen reduziert. Als Schachmeisterin des Systems hält sie ihre Zügel fest im Griff und peitscht auch den abtrünnigen Winston zurück.
Handlungsfokus
Die Romanze mit Julia (Johanna Egger) wird in aller Breite ausgeführt und bildet neben Winstons Aufbegehren das Zentrum dieser düsteren Inszenierung, die tatsächlich ihrer Zeit enthoben scheint. Johanna Egger trifft genau das richtige Maß zwischen frigidem Mitglied der „Jugendliga gegen Sexualität“ und sinnlicher Femme fatale. Lieb ist die Triggerwarnung vor der Saaltür, dass in der Inszenierung Sexualität und nackte Haut thematisiert werden. Echt jetzt? Aber natürlich möchte frau rufen, schließlich steht „1984“ auf dem Spielplan. Darf dem Publikum nicht mehr so etwas wie Resilienz zugemutet werden? Die 584 Jahre seit Gutenbergs bahnbrechender Erfindung hat das doch auch recht gut geklappt – und davor sowieso. Aber pssst, an dieser Stelle wäre es ohnehin bereits zu spät. Denn wer hier noch aus Angst vor einem Trauma umdreht, der hat das Ticket bereits gelöhnt. Deshalb kleiner Spoiler-Alert – die nackte Haut, die beschränkt sich auf ein Mindestmaß und Sexualität findet in dieser Inszenierung nur im Dunkeln statt. Alles gut also.
Big Sister: 1984
Ein weiteres wirkliches Highlight ist neben den gänsehautmäßig schönen Gesangseinlagen von Johanna Egger als Julia vor allem das Bühnenbild (Julius Leon Seiler, Kostüme: Maria-Lena Poindl). Dieser wahrgewordene Traum aus Fischgeschäft und Trödel ist ein raffiniert aufklappbares Bühnenversprechen. Auf der einen Seite hängen die Wassersäckchen mit den Fischlein drin (natürlich denen aus Plastik), und auf der anderen erstrahlen die Monitore mit ihren fidelen Artgenossen. Welch‘ schöner Einfall, Aquarien als Sinnbilder der bekannten Telemonitore, mit denen Big Brother seine Schäfchen immer im Blick behält. Nur, dass es sich hier eher um eine Big Sister handelt: Denn die Frauenstimme ist passenderweise KI-generiert. Allerdings steckt die Künstliche Intelligenz in „1984“ noch in den Startlöchern. Abgehackt und etwas blechern fordert sie zu unbedingtem Gehorsam auf. Das ginge inzwischen schon viel eleganter. Wahlweise auch animiert mit individuell erzeugten Personas. Ein Träumchen, was KI schon alles kann – oder eben ein gelebter Albtraum.
„So long, and thanks for all the fish“
Zurück zu den Fischen, die Rätsel aufgeben. Warum diese Obsession im Bühnenbild? Vermutlich handelt es sich um eine Referenz auf Ozeanien, dem Land, in dem das gedankengeknechtete Volk lebt. Und hier gibt es tatsächlich Ähnlichkeiten zu den Unterwasserbewohnern, die sich ebenfalls in einem begrenzten Raum bewegen, der sich wunderbar überwachen lässt. Eine eher humorvolle Analogie führt Richtung „Per Anhalter durch die Galaxis“. Schließlich sind Delfine dort die zweitintelligenteste Spezies vor den Menschen – nur noch übertroffen von den Mäusen, den geheimen Herrschern der Welt. Kann es also Zufall sein, dass just ein Delfin das antiquierte Tagebuch von Winston Smith ziert? Genau dem Winston, der ständig die Augen offen hält, um sich der Revolution des sagenumwobenen Emmanuel Goldsteins anzuschließen? Vielleicht steckt die Antwort also im Delfin. Vermutlich aber nicht, schließlich zählt er biologisch betrachtet nicht einmal zur Gattung der Fische. Ein schönes Gedankenspiel ist es allemal – und offenbar wirken die Verschwörungstheorien aus „1984“ ansteckend. Da bleibt eigentlich nur noch eins zu sagen: „So long, and thanks for all the fish“.
Fotonachweis: Jan Friese
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