Der Kirschgarten | Salzburger Landestheater

Der Kirschgarten – Salzburger Landestheater

Let’s get this party started

Alexandra Liedke inszenierte Tschechows „Der Kirschgarten“ als große, leicht verdauliche Absacker-Party mit Kirschblüten-Windmaschine am Salzburger Landestheater. Rotzig, frech und wunderbar melancholisch.

Die fetten Jahre sind auf dem betagten Landsitz der Familie von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja längst vorbei. Überdimensionale Wände mit genauso überdimensionierten Türrahmen bilden die Kulisse und sorgen für ein geschickt angeordnetes Labyrinth, das durch die ständig rotierende Drehbühne verstärkt wird (Bühne: Philip Rubner). Wie Alice im Wunderland jagt das Ensemble in Alexandra Liedkes Inszenierung des “Der Kirschgarten” durch immer kleiner werdende Türen. Nur, dass es sich hier längst ausgewundert hat und die Figuren vergebens dem Gestern hinterherhechten.

In aller Plot-Kürze

Ljubow Andrejewna Ranjewskaja kommt nach Jahren in Frankreich zurück auf ihr hochverschuldetes russisches Anwesen, das von einem riesigen Kirschgarten umgeben ist. Der müsste dem Bau von Ferienhäusern weichen, um die  Familie aus ihrer finanziellen Misere zu retten. Doch die hat andere Pläne und weigert sich beharrlich, die Bäume zu opfern.

Einmal mit Alles

Hundert mal inszeniert, hundert mal ist nichts passiert und dann hat es Boom gemacht: Alexandra Liedkes „Der Kirschgarten“ reiht sich in einen Rattenschwanz an Tschechow-Inszenierungen ein und – begeistert. Resolut überschreitet die Regisseurin Genre-Grenzen und kreierte eine Produktion, die dennoch nie die allgemein verdauliche Bodenhaftung verliert. Dafür setzte sie mit ihrem Team auf eine Mischung aus „einmal mit Alles“: Von tragisch-komisch über ungeschönt zu klug pointiert, dabei aber konstant gesellschaftskritisch richtete Liedke ihren Kirschgarten im zeitlosen Dazwischen ein und nimmt den Adel ins Visier. Das Resultat ist rotzig, frech und melancholisch – ohne dabei aber je sein breites Publikum aus dem Blickfeld zu verlieren.

Bussi und Baba

Dass der “Kirschgarten” auf so viel Publikumsliebe stößt, liegt auch am Bühnenbild; statt ausgefallenem Regietheater setzte die Regie auf naturalistische Reduktion, unterstützt durch die Kostüme von Johanna Lakner. Als stumme Zeugen ragen die Wände in den Bühnenhimmel und zentrieren die Aufmerksamkeit auf die Figuren, während die Kulisse selbst das Dutzend an Schauspieler:innen komplettiert. Neben Firs (Marco Dott wunderbar als tüddeliger Kammerdiener) ist sie ein Überbleibsel aus der alten Zeit, als die Leibeigenschaft noch zum guten Ton zählte. Abgerockt stehen jetzt beide vor den Trümmern ihrer Existenz; der eine demnächst von allen verlassen, die andere abgewohnt bis auf den letzten Türrahmen. In den sind noch die Wachstumsschübe der Kinder eingeritzt, die schon seit grauer Vorzeit flügge sind.

Vielleicht sind auch Kerben für Ljubow (Tina Eberhardt) und ihren Bruder Leonid (Matthias Hermann) darunter, ebenfalls zwei letzte ihrer Art. Während Tina Eberhards Ljubow rührend naiv, flatterhaft und immer entzückend verschwendungsüchtig daherkommt, ist Matthias Hermanns Leonid herrlich verschroben und mit Dünkel beladen. Beide eint das zwanghafte Klammern an alten Werten. Nein, den Kirschgarten können sie unmöglich verkaufen. Gegen Lopachins Vorschlag wehren sie sich vehement.  Ein sehr gelungener Regie-Einfall, der das wunderliche Verhalten des in die Jahre gekommenen Adels betont: Leonid versteckt sich nach dem Verkauf im allgemein gut einsehbaren Glaskasten.

Der Messias einer neuen Zeit

Das Ensemble erinnert an Bienen, die mal melancholisch, mal tragisch-komisch durch die Gänge des alten Gemäuers schwirren. Die Gäste einer letzten Absacker-Party, die sehr viel länger dauert als geplant. Lopachin bildet auf dieser entrückten Sause den wehmütigen Messias und die resignierte Kassandra gleichermaßen, auf die niemand hören möchte. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass der aufstrebende Landwirt mit dem untrüglichen Sinn fürs Geschäft die Regieanweisungen deklamiert. Ein Zeremonienmeister also, der die Fäden der eigenen Geschichte in der Hand hält; ein kurzer Vorausblick auf Kommendes.

Dann ist auch schon wieder Tschechows Lopachin zurück. Immer emsig, immer bestrebt, von allen als “kleiner Bauer” beschimpft. Paier gibt ihn hartnäckig, leidenschaftlich, mit lauter Stimme, die von den anderen mindestens genauso persistent ignoriert wird. Trotzdem jubiliert schlussendlich der viel Geprügelte. Es ist rührend, wie sich die Figur in kleinsten Schritten an ihr Glück herantastet. Erst als Lopachin im Hintergrund die Motorsäge zückt, wird deutlich, die neue Ära ist angebrochen. Eine der stärksten Szenen des Abends.

Modern frech

Gelungen aber auch das restliche Personal. Die beiden Töchter Anja (voller Energie: Leyla Bischoff) und Warja (versteckt romantisch und doch desillusioniert: Nikola Jaritz-Rudle) stehen folgsam habacht – und sind doch schon die Sprösslinge einer neuen Zeit, die sich problemlos einfügen werden. Gregor Schulz indes gibt einen eitlen Pjotr Sergejewitsch Trofimov zum Besten, der als ewiger Student hochtrabende Reden schwingt, denen er selbst am allerwenigsten Folge leistet. Larissa Enzi ist eine erstaunlich modern-freche Charlotta Iwanowa, der man gerne länger dabei zusehen würde, wie sie die Avancen von Semjon Jepichodow wenig gefühlvoll abweist (rührig-clownesk Georg Clementi) und Jascha (ambitioniert: Thomas Wegscheider) pointiert emanzipiert kontra gibt.

Vor der Party ist nach der Party, die Musik sitzt

Meistens liegt der Fokus ja auf sprechenden Namen. In Alexandra Liedkes Inszenierung sind es aber auch die sprechenden Songs (Musik: Karsten Riedel), die mit Pfiff eingearbeitet wurden. Die Songliste sitzt, wackelt und hat Luft: Von Alanis Morissettes “Uninvited” über David Bowies “Major Tom” bis zur finalen, jetzt wirklich letzten Rauswerfer-Nummer, wo sich “Money, Money” an “We’re Family” zur Karaoke-Polonaise entwickeln, bei der alle Hemmungen fallen – und auch eine Vase. Ein schönes Bild: Der Adel liegt in Scherben am Boden.

Gegen Ende hin wird die Windmaschine mit den Kirschblüten ausgepackt. Dann darf auch noch Georg Clementis Semjon in die Seiten greifen – und der Abschied wird wehmütig, aber mit melancholischer Inbrunst zelebriert. Selbst Marco Dotts Firs scheint recht zufrieden mit seinem Schicksal im alten Gutshof vergessen worden zu sein. Rührend, und irgendwie dann eben doch ein Happy-End, auf traurig-schöne Weise.

 

Fotonachweis: Tobias Witzgall

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