stART 2016 „Kerberos Scores“ / ein inszeniertes Konzert – oenm & ARGEkultur

KERBEROS SCORES und Atropos schneidet.

Das stART FESTIVAL AKTUELLER MUSIK beschäftigt sich 2016 mit der eigenen Vergänglichkeit und akustischen Phänomenen.

Kerberos (dt. auch „Zerberus“), das ist in der griechischen Mythologie der Höllenhund,  ein ziemlich furchterregender Hüter der Unterwelt. Das mehrköpfige Ungeheuer sitzt am Eingang und wacht, dass kein Lebender das Refugium der Toten betritt und kein Toter zurückkehrt. Ein scheußliches Wesen, dem man nicht unbedingt begegnen möchte, wenn es sich vermeiden lässt.

Die stART Produktion 2016 des FESTIVALS AKTUELLER MUSIK, für dessen Sujet Kerberos Pate stand, beschäftigt sich mit dem akustischen Weg hin zum Stillstand und startet seinen letzten Abend mit einer Uraufführung. Der in Salzburg lebende Komponist Marco Döttlinger präsentiert KONTINUUM; die Größenänderung von akustischen Phänomenen wird musikalisch zur Diskussion gestellt. Wie verändert sich der Klang und die damit verbundene Wahrnehmung? Vier Musiker*innen des Oenm Ensembles (Violine: Michaela Girardi, Viola: Jutas Jávorka, Violoncello: Peter Sigl, Kontrabass: Alexandrea Lechner) liefern mit ihrem divergentem Klangspiel ganz2016_start2_02 individuelle Ansätze. Einzelimpulse oszillieren zu unterschiedlichen musikalischen Gestalten und erzeugen je nach Geschwindigkeit der Darstellung neue akustische Phänomene.

ZWISCHEN von Werner Raditschnig und AUßER SICHT. VERGEHEN UND WERDEN von Alexander Bauer arbeiten mit der musikalischen Umsetzung des Ausklingens und des Stillstands. Das Sterben ist Teil des Lebens. Nihilist*innen betrachten den Moment der Geburt gerne als Anfang eines Weges, der persistent hin zum Tode führe. Andere schwören darauf, jeden Augenblick voll auszukosten, zu wertvoll und einzigartig sei das Leben (und meistens steht einem auch nur eines davon zur Verfügung). Allen Weltbildern ist allerdings gemein, dass auf das eigene Leben und Sterben kein Einfluss genommen werden kann. Zufällig in die Welt geworfen, stehen wir der eigenen Sterblichkeit hilflos und ausgeliefert gegenüber. Der beinahe allmächtige Mensch, der sich die Natur gerne untertan macht, ist zur Kapitulation gezwungen und die erfolgt nicht immer freiwillig. Gerade diese Willkürlichkeit und das Entziehen jeglichen Einflusses rückt das Sterben und den Tod in den Bereich des Mythischen. W. Raditschnig und A. Bauer haben die diffizile Thematik in eigene musikalische Sprachen übersetzt.

In ZWISCHEN (W. Raditschnig) fungiert das Cello als Grundlage. Saite für Saite wird der Klang vom Rauschen am Holz des Steges bis zu den Obertönen in die originäre Anstrichposition abgetastet und digitalisiert. 2016_start2_03Zwei Celli sind gegenüber positioniert und exerzieren verschiedene Spiel- und Klangtechniken (Cello verstärkt: P. Sigl, E-Cello präperiert, Zuspielungen: W. Raditschnig). Es ist ein Ausprobieren, ein sich Herantasten – Urzellen musikalischer Handlungen werden definiert und Neues entsteht. Grelles Licht durchschneidet plötzlich die Dunkelheit, das Publikum wird geblendet. Diese Augenblicke währen nur Sekunden, die Musiker spielen unbeirrt weiter. Mit ZWISCHEN setzen sich gleichzeitig die langen, am Bühnehimmel drapierten Seile in Bewegung, die bis zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen wurden. Kraftvoll und rhythmisch schwingen sie von links nach rechts, von rechts nach links. Mit der Dauer des Konzerts verlieren sie an Schwung, Unregelmäßigkeiten schleichen sich ein. Wie das Hintergrundrauschen von ZWISCHEN, das im Klang immer fahler wird und das Ablaufen der Zeit symbolisiert.

Noch pendeln die Seile, sachter zwar, aber persistent, und greifen nahtlos in A. Bauers AUßER SICHT. VERGEHEN UND WERDEN über (Violine: M. Girardi, Viola: J. Jávorka, Violoncello: P. Sigl, Kontrabass: A. Lechner, Elektronik: A. Bauer). Das Werk orientiert sich an den biologischen Vorgängen, die sich während des Sterbeprozesses im menschlichen Körper vollziehen. Beinahe wie Stimmen muten die Klang-Erlebnisse an, die A. Bauer dafür kreierte. Der scheinbar herrenlose Midiflügel, elektronisch wie von Zauberhand gespie2016_start2_07lt, symbolisiert die Willkürlichkeit des eigenen Organismus, dem der Mensch unterworfen ist. Das Herz schlägt wie von selbst, bis es verstummt. Analog dazu begehren die musikalischen Gestalten auf und kapitulieren, bis die Funktionen erlöschen. Dabei verzichtete der Komponist auf den Effekt des plötzlichen Stillstandes. Vielmehr setzt A. Bauer auf das langsame Ausklingen, das er durch die Streichinstrumente und das Midiklavier bis zum allerletzten Moment auskostet. Irgendwann verschwindet auch der letzte leise Ton. Es scheint ein friedliches, beruhigendes und sanftes Ende zu sein und trotzdem ist ein widerwilliges Loslösen zu spüren. Die Momente bis zum absoluten Stillstand werden ausgekostet und zelebriert. Von Klotho gesponnen, von Lachesis bemessen und von Atropos zerschnitten: Der Lebensfaden. Danach die totale Dunkelheit und auch die optische Übersetzung nach außen scheint unvermutet eingefroren. Alle Seile verharren wieder ruhig in ihrer ursprünglichen Position.

KERBEROS SCORES also, der Zerberus trifft, sprichwörtlich und gänzlich ohne bestialische Höllenhund-Metaphorik. Das zahlreich vorhandene Publikum zeigte sich sichtlich begeistert von dieser Reise in neue, mythische Klangwelten.

 

Fotonachweis: Wolfgang Lienbacher // ARGEkultur

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