Kino für die Ohren
Harald Martensteins Kolumne als deutsches Chanson? Ein Traum geht in Erfüllung! – Georg Clementi ließ sich für ZEITLIEDER 3 von Artikeln aus der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT inspirieren. Das Ergebnis sind wunderbar pointierte, herrlich kritische und sehr aktuelle Songs.
Ich muss gestehen, ich habe ein Laster – also abgesehen von einem zu hohen Kaffeekonsum, einer unrühmlichen Schwäche für englische Chic Lit und keinerlei Selbstbeherrschung in sportlichen Belangen ist es meine Fixierung auf DIE ZEIT. Jede Woche lese ich die deutsche Wochenzeitung nach dem gleichen Ritual: Vom Feuilleton beginnend, springe ich zurück zum Chancen-Teil und arbeite mich bis ganz nach vorne – wobei ich es meistens nur bis zum Dossier schaffe, dann ist die Woche auch schon wieder um und die nächste Ausgabe liegt im Briefkasten. Gefallen mir Artikel wirklich, wirklich gut (und das ist leider viel zu häufig der Fall), dann gebe ich dem Zwang nach, sie auszuschneiden und auf gefühlt 101 Teile einzuscannen. Das ist ein bisschen so wie die alten „Bravo“-Starschnitte, nur auf literarisch. Die Empfänger befinden sich in meinem Bekannten- und Freundeskreis und müssen die Artikel wohl oder übel lesen. Bis vor Kurzem dachte ich, ich wäre mit dieser seltsamen Fixierung alleine. Stimmt nicht! Andere haben ein sehr ähnliches ‚Problem‘, kompensieren es nur kreativer.
Herrn Clementis Gespür für Chansons
Der Liedermacher, Regisseur, Schauspieler und überhaupt Hans-Dampf-in-allen-Künstler-Gassen Georg Clementi präsentierte am Landestheater Salzburg kürzlich die dritte Ausgabe seiner ZEITLIEDER. Auf dem Album versammelte der Sänger ein breites Repertoire an deutschsprachigen Chansons. Selbstverständlich sind die Songs selbst geschrieben und teilweise auch selbst (oder von anderen) vertont. Das Liedgut mit den nachdenklichen, melancholischen oder amüsanten Texten hat eines gemeinsam: Sie stammen alle aus der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Tatsächlich zeigt sich Georg Clementi von bestimmten Artikeln so inspiriert, dass er sie nicht auf 101 Teile einscannte, sondern in eigene Worte und Melodien packte – und seither mit dem Rest der Welt teilt.
„Ich habe in der ZEIT gelesen“
Wenn der häufigste Satz in einem Konzert „ich habe in der ZEIT gelesen“ lautet, dann kann das nur ein ziemlich gutes Konzert sein. Dieser Gedanke verfestigt sich bereits mit dem ersten Song von ZEITLIEDER 3: Georg Clementi steht gemeinsam mit Sigrid Gerlach am Akkordeon und Ossy Pardeller an der Gitarre auf der Bühne der Kammerspiele und präsentiert sein neuestes Album. Dabei führt der versierte Schauspieler das Publikum mit pointierten Anekdoten und punktgenauen Übergängen sprachbegabt durch den Abend. Dass die Musik dem Chansonnier am Herzen liegt, wird deutlich. Gefühlvoll startet er mit dem „Loblied auf die Farbe Grau“ in den Abend und rückt die Wahrheit in den Fokus, ehe er in einem Exkurs mit „Blau wie die Seine“ dem joie de vivre in einem Pariser Bistro frönt – und betrunken-fröhlich über die Bühne torkelt. So viel gute Laune ist ansteckend, da muss, soll und darf sich zur Abwechslung ernsteren Themen zugewandt werden. „Flügellos“ ist so ein poetisches Chanson mit Potential zu melancholischem Klassikertum – auch wenn, oder gerade weil es mit dem Flüchtlingsthema eine bittere Beinote trägt.
Bibliophiles Grauen
Ein Album voller Chansons, die auf ZEIT-Artikeln basieren? Da darf ein Harald Martenstein selbstverständlich nicht fehlen. Das treue Kolumnen-Leserinnen-Herz jubiliert und amüsiert sich prächtig bei „Küsse die Hand“. Gleichzeitig beweist ZEITLIEDER 3 eine erstaunliche Emergenz; hat es mit „Küsse die Hand“ doch das aktuell omnipräsente #MeToo-Phänomen vorweggenommen und charmant entwaffnet. Georg Clementis sprachaffine Zeilen regen zum Nachdenken an. Zu „Lazarus“ inspirierte ihn Thomas Hürlimann, der den Spieß einfach umdrehte. Was wäre, wenn Lazarus von Jesus eigentlich gar nicht gerettet werden wollte? Wer könnte es ihm verübeln, schließlich muss er, von Schaulustigen umringt, stinkend und vermodernd aus seinem Grab hervorkriechen – und geistert seither wie ein Golem durch die Kulturgeschichte. – Leichtfüßig und schnell schreitet ZEITLIEDER dahin. Die Sache mit der Authentizität gelingt dem Liedermacher dabei so gut, dass Bücherliebhaber*innen bei „Der Bibliophile“ das blanke Grauen erfassen könnte. Im zart-nüchternen „Lied einer alten Frau“ schlüpft Georg Clementi in die Rolle einer 81jährigen Frau, die am Ende des gemeinsamen Lebensweges das Schnarchen ihres Mannes als gar nicht mehr so lästig empfindet, sondern es wehmütig willkommen heißt. Dann gehen irgendwann plötzlich die Schellen des Sängers zu Bruch – ein Zuviel an Emotionen?! Dass es bereits sein drittes Set war, trifft sich gut – ZEITLIEDER 3 und so. Apropos Gefühle! Richtig laut wird es bei „Fairtrade Kaffee“, diese herrlich pointierte und höchst widerwillige Absage des Apolitischen an die heile Welt.
„Please Sir, I want some more“
Mit ZEITLIEDER 3 trifft Georg Clementi den Puls seiner Zeit: Egal ob melancholisch, verzweifelt oder fröhlich. Scharfsinnig legt er den Finger in die Wunde und serviert selbst die schwersten Themen mit formvollendeter Leichtigkeit. Sein Schauspiel-Gen und die markante Stimme unterstützen ihn zwar beim Serviervorgang – es ist allerdings die wunderbar lyrische und gleichzeitig sehr präzise Qualität von Georg Clementis Texten, in Kombination mit den eingängigen Melodien, die dazu führen, dass sich die Chansons nachhaltig im Kopf festsetzen und auch nach der Vorstellung noch durch die unterschiedlichen Gehirnwindungen kreisen. Ein ziemlich gelungener Abend – mit viel kritischem Ohrwurmpotential.
Lust auf ZEITLIEDER 3 – zum Immer-wieder-Hören? Das Album (und seine Vorgänger) ist online bestellbar.
Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger
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