Die Strasse der Ameisen | Schauspielhaus Salzburg

Die Straße der Ameisen – Schauspielhaus Salzburg

DER LANGE ARM DER GEBRÜDER GRIMM.

Am Schauspielhaus Salzburg premierte DIE STRASSE DER AMEISEN: Irmgard Lübkes Inszenierung glänzt durch Spannung, Spiel und Spaß – die poetischen Anleihen bilden den Schokoüberzug. Fertig ist das Ü-Ei.

Schimmelpfennig, Schimmelpfennig, Schimmelpfennig. Schon mal gehört? Das könnte daran liegen, dass Roland Schimmelpfennig als der meistgespielte deutsche Autor unserer Zeit gepriesen wird. Die anderen schwören auf einen der meistgespielten. Feine Ohren (und Augen) erspähen den Superlativ. Ein Fall von literarischer Stille Post. An Schimmelpfennig führen aber so oder so nur wenig Wege vorbei. Sein Spezialgebiet ist fantastische Literatur im Sinne des magischen Realismus und die besticht in der STRASSE DER AMEISEN durch eine poetische Multikulturalität. Wie das halt so ist, wenn ein deutscher Dramatiker ein Auftragswerk für die deutschen Theaterwochen in Havanna schreibt und der lange Arm der Gebrüder Grimm still und heimlich in der Tinte rührt.

In aller Plot-Kürze

Familienidyll irgendwo in Südamerika. Die Familie lümmelt auf der Couch, schaut eine Soap-Opera. Der Großvater wartet auf ein Paket, das seit 42 Jahren ankommen sollte. Dann sieht der Freund der Enkelin eine Schneeflocke vom Himmel schweben. Ein Ding der Unmöglichkeit? Schließlich hat es draußen 35° Grad. Plötzlich kommt Bewegung in 42 Jahre Familienidyll, das Paket ist da. Der Inhalt enttäuscht im ersten Augenblick – und stellt die eingespielte Monotonie im zweiten auf den Kopf.

Die Ilsebill, die Ilsebill

Eine Ankündigung in einer Zeitung, die niemand lesen kann. Ein Glas, das niemals leer wird, und ein Kalender der die Vergangenheit erzählt. Eine Stift, aus dem romantische Gedichte strömen. Eine blonde Perücke, die fliegt, und ein Löffel, der tausend Geschmäcker besitzt. Regisseurin Irmgard Lübke betont mit ihrer Inszenierung den märchenhaften Charakter von Schimmelpfennigs STRASSE DER AMEISEN. Das scheint naheliegend, schließlich ähnelt der Stoff dem Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ der Gebrüder Grimm. „myne Fru de Ilsebill/ will nich so, as ik wol will“. Nur ist hier nicht Ilsebill die Maßlose, sondern gleich die ganze Familie, und der vordergründig spendable Butt wird wahlweise zur Schneeflocke oder dem verschollenen Bruder.

Fang‘ das LichtDie Strasse der Ameisen | Schauspielhaus Salzburg

Das Bühnenbild greift mit einfacher Ausstattung den märchenhaften Aspekt auf (Ausstattung: Andrea Kuprian). Nun gut, vielleicht ist es vor allem der Sternenhimmel, der diesen Eindruck erzeugt – eine schwarze Wand mit Mini-LEDs, aber das klänge jetzt doch zu unromantisch. Die Mischung macht’s. Deshalb wird die Leiter zum Fenster in (un)endliche Weiten. Die Tochter hastet wendig und himmelssüchtig in Flipflops die Sprossen empor und bereist die Nachbarschaft. Oben baumelt pittoresk drapiert ein Schirm mit allerlei magischen Spielereien. Die erhalten freilich erst durch die textliche Konnotation ihren besonderen Charakter und genau das verleiht den scheinbar profanen Requisiten ihre Fantastik und Alltagsmagie.

Poetik to go

Für das Gelingen der Alltagsmagie zeichnen sich auch die Schauspieler*innen verantwortlich. Den Wortspielereien und semantischen Jonglagen wohnt etwas eminent Poetisches inne, dem das Ensemble kraftvoll und sanft Ausdruck verleiht. Gleichzeitig schlägt die sprachliche Schönheit gemäßigte Töne an und verzichtet auf ambitionierte Exzesse – das verschafft ihr die Sympathien der Masse, verspielt aber gleichzeitig die Chance auf Universalität. Dafür lässt sich die textlich homogene Basis mit humoresken Untertönen verbinden, die das Ensemble gelungen nonchalant präsentiert. Auch die gestisch leisen Töne tragen zum Erfolg der Inszenierung bei. Imaginäre Ameisen werden dezent beiseite geschoben, die Gier des Individuums durch voranschreitenden Narzissmus gelungen umrissen. Aus alltäglichen Dialogen werden besessene Monologe. Diese Verbissenheit manifestiert sich mit zunehmender Stärke in der Schauspielerführung.

Circus Sanchez

Auffällig ist, der Paketinhalt intensiviert die Charakterzüge der Beschenkten und kehrt sie ins Negative. Die ambitionierte Tochter kann das Fliegen nicht mehr lassen und gewinnt einen tristen Einblick ins Leben (Kristina Kahlert mit überzeugender Mischung aus Hartnäckigkeit und fröhlichem, jugendlichem Leichtsinn). Ihre Mutter (Susanne Wende) lebt zuerst für die tägliche Dosis Telenovela und dann den unscheinbaren Kalender, der ihr die eigene Vergangenheit genauso dramatisch auf dem Silbertablett serviert. Dazwischen unterhält sie mit ihrem temperamentvoll wütenden „Maria!“-Gebrüll. Die Großmutter scheint ein ungesundes Faible zu ihren täglichen Mahlzeiten  zu entwickeln und droht am ausgestreckten Löffel zu verhungern (Ute Hamm in der Rolle des agilen Familienoberhaupts). Dass der Freund mit der romantischen Seele plötzlich an lyrischem Schreibzwang laboriert, erscheint da nur konsequent (Luke Bischof als Träumer verbissen schreibend oder schwärmerisch in die Ferne starrend).

Ü-Ei

Die textliche Struktur der STRASSE DER AMEISEN ähnelt mit Spiel, Spaß und Spannung einem Überraschungs-Ei. Dafür sorgt auch, dass  sich die Figuren nicht auf eine Rolle beschränken, sondern munter Perspektive-Wechsle-dich spielen. Sie erzählen nahtlos ineinandergreifend die Geschichte der Familie und fallen sich nur scheinbar unstrukturiert ins Wort. Dahinter steckt eine wohldosierte Choreografie, die bei aller lyrischer Ambition musikalische Reminiszenzen trägt. In Verbindung mit dem Schauspiel entsteht so eine belebende Collage, die dem märchenhaften, fantastischen Familienporträt eine eindrückliche Note verleiht.

 

Fotonachweis: Jan Friese

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