Kollektiv Kollinski Bluatsuppn

Bluatsuppn – Kollektiv Kollinski in Kooperation mit der ARGEkultur

Darf’s noch ein bisserl mehr sein?

In der ARGEkultur löffelt das Kollektiv Kollinski  in „Bluatsuppn“ gemeinsam mit dem Publikum die Trauma-Suppe aus – ein spannender Abend im bröckelnden Familienidyll.

Es ist schwer auszuhalten. Immer wieder führt das fast gute Dutzend am großen Familientisch den Suppenlöffel an den Mund. So richtig freiwillig löffelt in „Bluatsuppn“ aber niemand – das arglose Publikum wurde eben noch freudig von Susanne (Susanne Lipinski) am Gartentor abgeholt. In bester Stepford Wives-Manier verteilte sie die Eintreffenden auf die freien Plätze. Für zehn von ihnen war es das direkte Ticket auf die Bühne: den umfunktionierten Esstisch. Der Rest des Publikums gruppiert sich erhöht darum herum und darf sich am Suppen-Desaster der anderen laben. Aber nicht zu lange, denn diese Brühe geht alle an – und wie die Stimme aus dem Küchenschrank so schön einbläut: „Aufgestanden wird erst, wenn alle aufgegessen haben.“

Exklusiv weiblicher Blick

Auf dem Speiseplan der ARGEkultur steht die „Bluatsuppn“. Hört sich unappetitlich an? Soll es auch sein. Man denke an den kugelrunden, kerngesunden Suppenkaspar: „Nein, meine Suppe ess’ ich nicht.“ Dieses Nein täte uns allen gut, findet das Kollektiv Kollinski. Wir wissen aber, dem Suppenverweigerer wird das Rebellentum im „Struwwelpeter“ noch übel bekommen.

Mit diesen oder ähnlichen stereotypen Vorstellungen und stillen Traumata brechen Natascha Grasser (Regie, Stückidee & Konzept) und Susanne Lipinski (Performance, Stückidee & Konzept). In einem rein weiblichen Team (Musik & Performance: Victoria Fux, Projektionen & Visual Arts: Lisa Horvath, Textfragmente: Sophie Reyer, Bühnenbild, Kostüme & Kampfchoreografie: Selina Nowak) wird Familiengeschichte neu aufgerollt und eindrücklich demonstriert, dass es sehr förderlich für die Psychohygiene sein kann, die gute Suppe eben doch zu verweigern.

Diese Suppe kann Spuren von Gewalt enthalten

Zurück zu dem fast guten Dutzend im Scheinwerferlicht. Sie stehen paradigmatisch für uns alle, für unser Vergangenheits-Ich, das auch nicht immer freiwillig die Suppe löffelte. Für die Inszenierung wurde der Tisch als visuelles Tableau mit unterschiedlichen Projektionen & Visual Arts (Lisa Horvath) bespielt, was ein ganzes Potpourri an Möglichkeiten eröffnet. Die Lichtspiele akzentuieren die Konfrontation mit den Traumata – sei es, indem sie sich langsam über den Familientisch ergießen und sich über alle ausbreiten, oder minimale Disruptionen hervorrufen. Wie Risse in der Psychen-Matrix, sozusagen. Die Bilder, die dabei entstehen, sind unglaublich stark – sowohl auf psychologischer als auch auf inhaltlicher Ebene – und dennoch solides Handwerk.

Der funkige Glitch geht mit dunklen, düsteren Tönen einher. Das ist sehr subtil und unglaublich effizient. Schnell wird deutlich: Hier brodelt es unter der Oberfläche, und zwar gewaltig. Im gleichen Maße, wie Susanne aus dem familieninternen Nähkästchen plaudert, bröckelt auch ihre perfekte Gastgeberinnen-Maske. Zur gleichen Zeit plappert die Stimme aus dem Küchenschrank-Off (Victoria Fux) gegen sie an. Eine Figur, die ein anthropomorphisiertes Trauma ist und mit ihrem Domizil – wir erinnern uns, die Kredenz – in einem Gegenstand residiert, der vor allem vor der Jahrtausendwende typisch weiblich konnotiert war. Das ist nicht nur konsequent, sondern auch effizient, schließlich liegt vor der Jahrhundertwende auch die aktuelle Vergangenheit. Obendrein ist die Performerin die weltbeste „Iss-jetzt-endlich-diese-Suppe-auf“-Animateurin. Oft schmeichelnd, oft drohend, bisweilen resigniert oder hoffend – und dazwischen intoniert Victoria Fux Songs, die ganz manchmal sogar an Nina Hagen erinnern.

Transgenerationale Traumata in „Bluatsuppn“

Susanne Lipinskis Bühnen-Alter-Ego schenkt sich nichts. Großartig in der Improvisation mit dem Publikum, bleibt sie immer in ihrer Rolle und kreiert zugleich eine sehr gelungene, schizoide Atmosphäre. Die Texte und ihre Fragmente sind vielschichtig: So heiter, wie sie im ersten Moment erscheinen, so düster auf den zweiten Blick. Doch mit Humor lässt sich bekanntlich alles transportieren, vor allem dann, wenn er so hervorragend orchestriert wurde wie in „Bluatsuppn“, und das auf allen Ebenen.

Immer wieder lässt die Figur der Susanne Erinnerungen fallen – zuerst vage, dann konkreter. Die meisten stammen nicht nur von ihr; sie erzählt von der Mutter, die sich nie alleine in den Keller traute. Von der Großmutter, die in Tränen ausbricht, wenn nicht aufgegessen wird. Es klingen aber nicht nur transgenerationale Traumata an, die so lange weitergegeben werden, bis endlich jemand hinsieht und sie erkennt. In vielen Fällen findet sich auch die eigene Kindheit auf der Bühne: Essen, so scheint es, ist ein heißes Thema. Jeder kennt diese eine Oma, die vor dem Aufstehen vom Tisch auf den leeren Teller bestanden hat.

Xmas-Wrestling an der ARGE

Susanne macht es vor: Mutig zerrt sie die Stimme aus der Kredenz, die sich als punkiges, renitentes, trauriges inneres Kind entpuppt – und ziemlich wütend ist. Zu den typischen Weihnachtshits und anderen Klassikern, die halt so auf Familienfeiern laufen, prügeln sich die beiden lautstark durch den Ring (Kampftraining: Selina Nowak). Auch wenn Gewalt keine Lösung ist – und nein, ganz besonders nicht gegen das eigene Ich – in „Bluatsuppn“ scheint es zu helfen. Nach dem großen Wutausbruch darf reinigendes Wasser über den Tisch fließen, und das Publikum verlässt das Haus über den Hintereingang. Ah, so eine Katharsis kann doch ganz schön wohltuend sein. Suppe noch jemand? Regt wunderbar zum Nachdenken an. “Schlürf, schlürf.” Aber vorsicht, der Wiedererkennungswert ist verdammt hoch.

 

Fotonachweis: ARGEKultur / Roland Renner

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