Tim Thoelkes Debütalbum BÖSE SEE ist eine Liebeserklärung an den Mythos: abgründig, melancholisch und düster-heiter.
Man muss kein Seebär sein, um das Meer zu mögen – um aber selbst bei stolzen Landratten akutes Meerweh zu entfachen, dazu bedarf es entweder eines Zaubers oder Tim Thoelke. Letzterer ist Musiker und gebürtiger Flachländler, mit BÖSE SEE veröffentlichte er aber ein Debütalbum, das kaum meeresaffiner ausfallen könnte. Zugegeben, der Titel klingt bereits vielversprechend, greift aber gleichzeitig zu kurz. Denn wer auf Play drückt, dem werden nicht einfach dunkle Töne oder bekannte Sea Shantys um die Ohren geknallt. Vielmehr öffnet Thoelke mit seinen Musikern Tim Gressler, Eike Groenewold & Konrad Schreiter eine divergente, düstere Welt, der sich schwer wieder entziehen lässt. Auf dem Silbertablett werden Küstenromantik, Seemannsgarn und Schauermärchen dargeboten.
Er kam, sah und sang: Tim Thoelke mit BÖSE SEE
Tim Thoelke hat viele Professionen. Vom Punkband-Mitglied in den 80ern, zu Musiker, DJ, Stadionsprecher, Moderator, Autor und Kolumnist im Hier und Jetzt. Meistens im Fokus, Stimme und Sprachlichkeit. Genau die beiden bilden mit der homogenen Instrumentierung den Dreh- und Angelpunkt auf BÖSE SEE. Die dunkle einprägsame Stimmlage erinnert an Nick Cave und schreibt sich in die Gehirnwindungen ein. Mit dem Australier teilt sich Tim Thoelke auch die Balladenartigkeit seiner Songs, die eine mythologische Tiefe evozieren.
Eine der stärksten Nummern ist die „Strandräuberballade“, die fast acht Minuten ein düsteres Bild der Schattenbewohner zeichnet. Dafür nehmen sich Sänger, Musiker und Chor alle Zeit dieser Welt – oder dieses Albums. Es entsteht ein dunkles Panoptikum, das gerade durch seine geballte Sprachlichkeit Perfektion findet und gleichzeitig an Edgar Allan Poe und den Roten Tod erinnert. Die Poe Analogien scheinen noch öfters auf und sind auch in der „Silberhochzeit“ allgegenwärtig – einer lyrisch wunderbar verpackten Feier, die makabrer kaum ausfallen könnte, gerade auch weil die Musik die düstere Thematik sprengt.
Bar hinterm Schlachthof
In eine ähnlich abgründige Kerbe schlägt „Der letzte Tote der Erebus“. Wortbegabt lässt Thoelke hier das Grauen einer letzten Reise auferstehen. Fast so, als hätte das Floß der Medusa einen neuen, eisigen Kurs eingeschlagen. Genau deshalb möchte man es kaum glauben, aber tatsächlich kann der musizierende Sänger und dichtende Musiker auch anders. Lyrisch und wohlgereimt die Zeilen zu Katinka in „Die schwarze Katze“: „Sie war so schön wie die See, so wild wie das Meer, sie trank ’ne volle Flasche in einem Zuge leer“. Gleichzeitig ist Katinka keine Seeräuber-Jenny, sondern darf sogar Happy End feiern. Ja, auch harte Seebären aus Hannover sind im Kern eben echte Romantiker. Ähnlicher Herz-Schmerz wird mit rauer, melancholischer Stimme in der „Ballade vom treuen Fischer“ verkündet, die außerdem noch den Längenrekord des Albums sprengt und volle Fahrt auf Kitsch nimmt. Für gute Laune sorgt „Kein Seemannsgarn“, das mit Swing-Anleihen, kesser Intonierung und herrlich abstrusen Geschichten begeistert.
Am Ende verblüfftes Innehalten. Schade eigentlich, dass BÖSE SEE nur 8 Songs umfasst. Da ließe es sich gut und gerne noch ein paar Stunden zuhören.
Fotonachweis: Tim Thoelke
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