Irgendwie scheine ich den allgemeinen Buch-Bloggertrend nicht ganz begriffen zu haben und ständig auf ältere Literatur zu bauen. Damit meine ich jetzt natürlich nicht wirklich Ältere Literatur im Sinne von 16. Jh. abwärts, nein, allerdings Bücher die gut und gerne bereits ein paar Jährchen auf dem Buckel haben dürfen. „Neue Bücher kann schließlich jeder“, denke ich mir und widme mich den bejahrten Exemplaren. Das ist allerdings vermutlich nur eine Ausrede, weil ich mir meine Leseexemplare meistens in Bibliotheken besorge. Da schöpfe ich dann aus dem „biblio-Vollen“, gleichzeitig wird mir auch die zeitliche Begrenztheit vor Augen geführt: Neuerscheinungen gibt es nur nach langen (und damit meine ich wirklich LANGEN) Wartezeiten. Andererseits handelt es sich hier ja auch um die Kategorie „literarische Genüsse“ und die muss, da wird mir hoffentlich das Gros der LeserInnen zustimmen, nicht unbedingt topaktuell sein. Deshalb habe ich jetzt wieder so ein Schätzchen beendet.
Neulich wurde mir nahegelegt, doch einmal „Der englische Patient“ von Michael Ondaatje zu lesen. „Den Film dazu kennst du sicher“, wird mir bei dieser Gelegenheit versichert. Ja, tatsächlich kenne ich den Film. In meiner Ralph Fiennes-Phase musste ich den selbstverständlich sehen, auch wenn man von Ralph Fiennes selbst relativ wenig sieht, was in der Rolle als verbrannter englischer Patient nicht unbedingt verwundert. Die Kameraeinstellungen sind allerdings erinnerungswürdig und das italienische Flair hat sich eingebrannt. Während ich noch in meinen Erinnerungen daran schwelgte, ereilte mich die empfohlene und bereits gelesene Ausgabe als Ostergeschenk. Lieb.
Der Roman ist tatsächlich besser als der Film. Der englische Patient liegt naturgemäß immer noch verbrannt in der italienischen Villa und wird nur von Hana, einer jungen und von Krieg und Tod des Vaters traumatisierten kanadischen Krankenschwester versorgt. Dann stößt noch Caravaggio hinzu, ein uralter Familienfreund des Mädchens und Kip, ein junger indischer Pionier. Die Identität des englischen Patient ist ungeklärt und alles kreist um das seltsame Grüppchen an Außenseitern, das sich in dem verlassenen Nonnenkloster eingefunden hat.
Einer der herausragensten Merkmale des „englischen Patienten“ sind nach wie vor Ondaatjes wunderbare Landschaftsdeskriptionen, die den Fokus auf Einzelheiten richten und ein kleines Gemälde evozieren. Ein bekannter deutschsprachiger Schriftsteller war der Ansicht, dass Natur vorausgesetzt werde und nicht beschrieben werden müsse. Dem widerspreche ich und dieser Text eignet sich exzellent als Gegenthese. Der Roman erwacht vor dem italienischen Hintergrund zu neuem Leben und lässt seine Leser tief ins Sujet eintauchen. Nur Caravaggio irritiert. Vor meinem geistigen Auge taucht immer wieder der gleichnamige Maler auf. Intention? Dafür müsste ich mich vermutlich besser mit seinem Oeuvre auskennen.
Tatsächlich entwickelt sich die Handlung als äußert spannend und hatte ich ganz vergessen, wer sich hinter dem englischen Patienten verbirgt. In Gedanken und Gesprächen zwischen den Figuren rekonstruiert sich die Geschichte des mysteriösen Mannes, der eines Tages wie ein brennender Feuerball mit seinem Flugzeug vom Himmel in die Wüste fällt. Dass diese zahlreich eingestreuten Einsprengsel keiner stringenten Linie folgen, scheint logisch und steigert den geheimnisvollen Faktor, der die vier seltsamen Einzelgänger umgibt.
In Somerset war er alleine mit seiner Frau, die uns nie gesehen hatte. (…) Es war im Juli 1939. Sie erwischten noch den Bus von ihrem Dorf nach Yeovil. Der war langsam gewesen, und so waren sie zu spät zum Gottesdienst gekommen. (…) Der Geistliche sprach mit donnernder Stimme frohgemut vom Kämpfen, sprach den Segen über die Regierung und die Männer, die im Begriff standen, in den Krieg zu ziehen. (…) Er zog seinen Wüstenrevolver heraus, beugte sich vor und schoss sich ins Herz. Er war auf der Stelle tot.
Yeovil. Mir bekannt. Mir in der Tat sehr bekannt. Ob die literarische Randfigur, von der der englische Patient an dieser Stelle erzählt, auch mit dem South West Coaches Service aus dem Umland anreiste, so wie ich selbst ebenfalls ein halbes Jahr aus einem der umliegenden Dörfchen in die Arbeit nach Yeovil pendelte, um dann am Busbahnhof auszusteigen, der diesen Namen gar nicht verdient? „Bahnhof“ ist in diesem Kontext tatsächlich etwas hochgegriffen; angesichts der wenigen Busbuchten, die sich um ein Kiosk und sehr wenige schlecht besuchte Läden gruppieren, in der Nähe ein Schlachthof, von dem man, wenn der Wind ungünstig steht, noch die Schreie der Tiere vernehmen kann. Waren die Busfahrer ähnlich freundlich und alteingesessen wie beispielsweise John, der im Zweifelsfall besser wusste als ich, wo ich aussteigen wollte und mitunter sogar extra vor meiner Haustüre hielt? Oder der dicke unsympathischer Fahrer, der uns irgendwann unvermutet mit rassistischen Äußerungen begrüßte und danach endgültig und ein für allemal unten durch war. Im fiktiven Yeovil von 1939 war vielleicht alles noch ein bisschen anders oder doch bereits ähnlich.
Es ist erstaunlich, wie nicht einmal eine halbe Seite Text zum Träumen anregt. Wenn man das jetzt auf 374 Seiten hochrechnet, dann lädt der Englische Patient zum Verweilen ein. Denn konträr zur latent deprimierenden Handlung, die geschickt zwischen zahlreichen verworrenen unzusammenhängenden Erinnerungsstückchen verborgen ist, die zuerst aufgedröselt werden müssen, um ihren Sinn zu erfassen und deren Quelle natürlich eine unglückliche Affäre ist, entpuppt sich der Roman als kleiner literarischer Schatz mit beinahe lyrischem Charakter. Gar wunderhübsch zu lesen, bleibt trotzdem eine gewisse immerwährende Spannung zu konstatieren, die die Leserin in Atem hält. Vermutlich auch alle anderen potentiellen Leser und -Innen. Einen Versuch ist es wert (und ich hätte da eine Ausgabe, die bei Bedarf auch verliehen werden kann). 😉
Ondaatje, Michael: Der englische Patient. München: dtv, 2014, 4. Aufl., (Deutsch von Adelheid Dormagen).
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