Laut, schrill und wütend: HEDWIG AND THE ANGRY INCH im Musiktheater Linz. Das Publikum jubelt.
Auf der Bühne steht ein Mann. Einer von der kleinen, prolligen Sorte, der seine Beine in den Boden rammt und missmutig Blicke ins Publikum wirft. Kurz angebunden, mit fremden Akzent, den man einfach als „ausländisch“ subsumieren möchte, weist er die Zuschauer*innen schlagfertig an, ihn zu ignorieren, weiterzuplaudern und erreicht damit das genaue Gegenteil.
Der Mann da vorne ist Yitzhak und zumindest seine Schauspielerin Ariana Scharasi-Fard ziemlich weiblich. Gleich zu Beginn zeigt sich die Richtung, die HEDWIG AND THE ANGRY INCH auch konsistent beibehalten wird. Das amerikanische Off-Broadway-Rock-Musical, das 1998 uraufgeführt wurde, ist ein ziemliches queeres Musical, das mit Identitäten und Geschlechterzuschreibungen spielt wie vermutlich nicht so viele andere. Deshalb ist Hedwig auch eine Transgender*frau, obwohl sie genau genommen gleichzeitig auch immer noch irgendwie biologisch ein Mann ist. Das Schicksal hat ihr nämlich übel mitgespielt. Als DDR-Junge verliebt sich Hansel (amerikanische Autoren und ihre Klischees…) in einen US-Soldaten. Für den flotten GI will sich der verliebte Knabe zur Frau umoperieren lassen. Keine gute Idee, wie sich kurz darauf herausstellt; die OP geht schief und Hansel ist jetzt zwar Hedwig, hat aber auch noch diese lästigen 2,5 cm übrig, den „angry inch“, die ihn*sie zwischen den Geschlechtern ansiedelt. Verständlicherweise ist Hedwig zornig. Die Ehe zerbricht und sie lernt den pickeligen Jesus-Anhänger Tommy kennen. In der Liebe hat Hedwig kein Händchen; Tommy lässt sie sitzen, läuft mit ihren Songs im Gepäck davon und wird berühmt. Das ist zu viel für die sensible Glam-Rockerin; sie setzt sich mit ihrer Low-Budget-Band und Ehemann Yitzhak auf die Spur des untreuen Freundes. Und so stranden sie an diesem Abend hier, in einem Kellerloch, während Tommy in der Halle darüber von seinen Fans frenetisch gefeiert wird.
Riccardo Greco ist eine fabelhafte Hedwig. Sarkastisch, ziemlich melodramatisch und bisweilen depressiv entblößt er alle Facetten seiner Ost-Berlinerin. Schicht für Schicht wandelt sie sich von der kessen Glam-Rockerin zur sensiblen Chanteuse und zeigt ihre verletzliche Seite, die sie aufgelöst von der Bühne stürmen lässt oder sich in wildem Wutgebrüll („Angry Inch“ usw.) musikalisch entlädt. Gleichzeitig gelingt es Greco, ihre negativen Gefühle nicht auf das Publikum übergreifen zu lassen. Stattdessen herrscht dort heitere Beschwingtheit und Amüsement. Die Zuschauer*innen lieben Hedwig und das vom ersten Moment an, wenn sie divaesk und strategisch clever auf ihren Highheels grazil von oben herab in den Saal stöckelt. Sie genießt das Lampenlicht, das sich diesmal nur auf sie richtet. Ihre Songs sind ein Erlebnis, die nicht nur durch kleine stimmliche Unebenheiten bereichert werden, sondern auch durch ein großartiges Emotionsspektrum, das ihr Sänger spürbar nach außen trägt. Die backing vocals stammen übrigens fast immer von Yitzhak, dessen Intonation mit einem Mal voluminös und ziemlich feminin klingt. Wie passend also, dass er den Transsexuellen-Part verkörpert.
HEDWIG AND THE ANGRY INCH ist ein ephemeres Stück Musiktheater. Tatsächlich bildet sich das Bühnenbild in jeder Vorstellung neu und zerfällt bereits in der nächsten Sekunde. Nämlich dann, wenn Yitzhak die Videokamera, die seine Aufnahmen an die Bühnenwand projizieren, auf das nächste Motiv richtet. Wunderbare Bildimpressionen und neue Perspektiven entstehen; auch dank einer Flasche von Bühnennebel und Yitzhaks kreativer Ader.
Der Abend trägt einen intimen Touch; Hedwig begibt sich auf Identitätssuche und wird fündig. Auch für Yitzhak ändert sich so einiges und das Publikum ist auch 1,50 Stunden später immer noch hörbar begeistert und die Vorstellungen vermutlich zu recht schon jetzt bereits ziemlich ausverkauft. Wer noch Karten möchte, sollte sich lieber schnell entscheiden.
Fotonachweis: Patrick Pfeiffer
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