Ich, ein sensibler Ort

„Ein Stück tanzendes Leben“ im Toihaus Salzburg

Vergänglichkeit – seit Menschengedenken ein Topos, der eine unglaubliche Faszination ausübt und über großes Anziehungspotential verfügt. Während der Westen sich allerdings vielmehr auf die negativen Konsequenzen des Verfalls konzentriert, der in abendländischer Dichtung und bildender Kunst oft bereits mit der Geburt einsetzt und bei Kohelet als „eitler Windhauch“ (1,2) verrufen wird, ist der Osten da anderer Meinung. In Japan wird der Vergänglichkeit geradezu gehuldigt; nun ja, zumindest in Bezug auf die Keramik. Stichwort: Kintsugi = die Goldverbindung. Der Programmflyer des Abends weiß Erstaunliches darüber zu berichten. Während wir Europäer zerbrochene oder angeschlagene Teller verschämt beseitigen (Ausnahme: mein Schrank ist da nicht ganz so wählerisch), gehen die Japaner anders an die Sache heran. Dort wird zerbrochene Keramik stolz geflickt und mit feinstem Pulvergold veredelt.

Zerbrochene Keramik in Analogie mit dem grazilen Ich. – Diese und anderer Konzepte von Vergänglichkeit und Fragilität fließen in Pascale Staudenbauers (Tanz & Choreographie) und Astrid Seidlers (Konzept & Choreographie) Performance „Ich, ein sensibler Ort“ ein (Musik: Hüseyin Evirgen), zu sehen im Toihaus Salzburg.

Leise und fragil soll es sein, dieses Ich, dem P. Staudenbauer an diesem Abend ihren Körper leiht. Am Anfang herrscht Dunkelheit und dominiert tatsächlich die Stille. Zumindest solange bis ein Zuschauer versehentlich ein Glas umstößt, das eigentlich Teil der Perfomance sein sollte. Kein Problem, das kleine Malheur, das dem Verursacher sichtlich unangenehm ist, kann schnell und ohne Aufregung wieder behoben werden. Dann ist es tatsächlich ruhig und das Stück beginnt mit dem leichten Flirren, dem sanften Knacksen von Glühbirnen. Doch wer der Meinung ist, dass diese Stille lange währt, der irrt. Auch Stille kann voluminös ihre Stimme erheben; plötzlich werden die durch die Tänzerin verursachten Geräusche, die noch wie ungeboren ruhig am Boden verharrt, lauter. Sie dreht sich langsam in die eine, langsam in die andere Richtung. Jede noch so kleine Bewegung wird durch den allgemeinen Zustand der Ruhe weithin vernehmbar nach Außen getragen.

Wer sich auf die Performance einlässt, wird sich selbst neu erfahren. – Langsam entwickelt sich aus den beherrschten und ruhigen Bewegungen ein wahres Konzert der Sinne; es tropft, es leuchtet, es spritzt, es wird gegossen, es wird getrunken und es fällt zu Boden – einfache Geräusche und Effekte, die den Weg des Ichs begleiten, werden zu aufregenden Accessoires, die vom ausdrucksstarken Tanz der Performerin begleitet werden und gleichzeitig geschickt die Vergänglichkeit und Fragilität immer wieder aufgreifen und akzentuieren. Das Tempo erhöht sich und damit auch die Lautstärke der anfangs nur sacht anklingenden musikalischen Untermalung.

Das Ich in der Performance erhält Körper und Expression durch die Tänzerin. Doch was genau möchte P. Staudenbauer damit ausdrücken? Das ist das eigentlich Spannende an der Aufführung: Alles kann dieses Ich sein;  eine unendliche Projektionsfläche entfaltet sich vor dem Publikum. Das Ich reduziert sich nicht auf sich selbst oder seine Tänzerin, es weitet sich aus und darf mit eigenen Gefühlen und Erfahrungen assoziiert werden. Jeder soll sich seiner eigenen Imagination bedienen, sich fallen lassen und mit einer tabula rasa von Neuem beginnen. Unvermutet oszilliert das Ich auf der kleinen Bühne zum eigenen und höchst persönlichen Ich. Es durchlebt ein ganz eigenes Gefühlsspektrum und wird zu einem sehr intimen Ort. Die Möglichkeiten sind unendlich und variieren je nach Bedürfnis und Interpretation.

Der zerbrechlich zarte und universelle Charakter des Ichs wird aber nicht nur mittels ausdrucksstarker Performance aufgegriffen, sondern spiegelt sich auch im Kostüm (Cornelia Böhnisch) der Tänzerin wider. Das in Kintsugi-Technik gehaltene Kleid symbolisiert die mehrfach beschädigte und mit stolz reparierte Keramik-Methode; das Ich als geliebtes, gehegtes und mitunter schlecht oder nachlässig behandeltes Objekt, das trotz seiner kleinen Mängel und Makel immer wieder gekittet wird. Die goldenen Linien der Bruchstellen zeugen von seiner Kostbarkeit, die unorthodoxen Raffungen des Stoffes machen es einzigartig. Mit dieser wunderbaren Botschaft endet „Ich, ein sensibler Ort“. Plötzlich ist es wieder dunkel, nur das Licht knackst leise in regelmäßigen Abständen vor sich hin. Alles zurück auf Anfang.

Fotonachweis: Toihaus Theater Salzburg

NB An Freundin M.: Kohelet! Endlich wieder eingebaut, wurde aber auch langsam wieder Zeit, ihn einmal mehr zu nennen. Eitler, eitler Windhauch … 😉 Und übrigens… „(…) Awe liebe muter meyn/ Eyn swarczer man czeut mich do hyn/ Wy wiltu mich nw vorlan/ Nw mus ich tanczen vnd kan noch nicht gan.“

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