Griechischer Chor an Google Earth, Google Earth bitte.
Schuld, Gewalt und Rache: Das Thomas Bernhard Institut rekonstruiert mit Enis Macis MITWISSER eine Realität aus Märchen, Fiktion und Fakten. Unbequem, berührend und verdammt anders.
Wir sind zwar Zwerge auf den Schultern von Riesen, aber nicht alle ruhen sich auf den breiten Schultern auch aus. Die jungen Zwerge beispielsweise pfeifen auf hervorragende Sicht und verknüpfen antike Errungenschaften lieber mit eigenen Ideen und zeitgenössischen Eindrücken. Das Ergebnis ist ein dramatischer Quilt wie Enis Macis MITWISSER. 2018 uraufgeführt, bildet MITWISSER die diesjährige Abschlussproduktion des Schauspieljahrgangs 2016 am Thomas Bernhard Institut – eine Inszenierung, die reinhaut: unbequem, berührend und verdammt anders.
In aller Plot-Kürze
Port St. Lucie in Florida, Koruyaka in der Türkei und Dinslaken in Deutschland – die Koordinaten dreier Orte markieren drei Verbrechen. In 27°20‘01.6“N 80°20’40.9“W lädt Teenager Tyler Hadley über WhatsApp zu einer Party im Hause seiner Eltern. Dass er diese zu dem Zeitpunkt bereits umgebracht hat, ahnt niemand. In 38°08‘40.0“N 31°13‘28.1“E wird Nevin Yildirim Opfer eines brutalen Verbrechens; immer wieder schleicht sich der Mann ihrer angeheirateten Tante in das Haus und vergewaltigt die junge Frau. Als sie von ihrem Selbstrecht Gebrauch macht, wird sie verurteilt. Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsschwund prägen die ehemaligen Industrielandschaften des Ruhrgebiets. Von 51°35‘07.4“N 6°45‘29.6“E bricht Nils Donath auf denkbar radikalste Art und Weise mit der westlichen Welt: Er zieht als IS-Kämpfer nach Syrien.
Griechischer Chor
Auf der Bühne sammelt sich ein griechischer Chor. Als düstere Einheit bewegt er sich durch das Stück. Immer wieder treten einzelne Mitglieder hervor und deklamieren voller Inbrunst, Verzweiflung und mit 110 Prozent Körperlichkeit. Sie springen auf die Bestuhlung, manchmal kippen Stühle, ehe sie wieder mit dem Chor verschmelzen und andere ihre Position einnehmen (Regie: Mareike Mikat, Bühne: Thorben Schumüller, Sounddesign: Jonathan Heidorn, Jan Fredrich). Das Ergebnis ist ein spannendes Figuren-Kollektiv, das die moralische Frage prominent in den Fokus rückt. Gleichzeitig dient der Chor als Strickleiter, um sich von den Schultern besagter Riesen abzuseilen. Tatsächlich fügt sich das antike Theatermuster hervorragend ins moderne Spiel. Es fungiert einmal mehr als Sprachrohr, das die Ängste und Geheimnisse zum Ausdruck bringt. Schuld und Sühne, das Verhältnis von Individuum und Welt stehen zur Disposition und werden doch nicht gewertet.
Und plötzlich hat es Zoom gemacht
Spannend die Perspektive: Gebetsmühlenartig wiederholt das Kollektiv eingangs immer wieder seine Zahlenreihen. Das erinnert an ein Vorspiel; statt wie in Goethes „Faust I“ auf das Theater sollte es allerdings „Vorspiel auf Google Earth“ lauten. Wie Mensch gewordene Längen- und Breitengrade wirbeln die Darsteller*innen mit aufgeklebten Vermessungslinien ganz in Schwarz über die Bühne und damit durch das Internet (Kostüm: Lou Hinderhofer). Dann oszilliert das bis dahin chaotisch-performative Spiel zu einem Kameraauge und zoomt in Google-Earth-Manier auf die Koordinaten zu, die sich als Orte der realen Verbrechen entpuppen. Der kleine rote Marker sitzt. Das Ensemble schlüpft in türkise Overalls Typ Reinigungspersonal, die Geschichten der weltumspannenden Verrohung nehmen ihren Lauf.
Alle Mitwisser für einen, ein Mitwisser für alle
Die Mitwisser argumentieren wortgewandt; eloquent entziehen sie sich jeder moralischen Verantwortung. Angeklagt werden sie nur durch die anderen. Eva Lucia Gieser versucht zu verstehen und scheint doch daran zu scheitern. Fast ängstlich weicht sie als Mitwisserin vor Tyler (Felicia Chin-Malenski) zurück, als der Gewissenshygiene betreiben möchte. Andere haben da weniger Scham. Selbstsicher marschiert Caroline Adam Bays Mitwisserin auf die Garage zu, in der noch die Reste der Bluttat kleben. Nüchtern, ja, geradezu fasziniert berichtet sie wenig später darüber. Gleichzeitig sind die Täter auch unter den Mitwisser-Mimen: Sebastian Jehkul ist ein prahlender Tyler Hadley, der immer wieder seine Männlichkeit betont. Währenddessen gibt sich Kai Göttings Tyler ungeniert dem Größenwahn hin: ein letztes Selfie als ’stage-divender‘ Jesus mit Mitwisserin Madeline Gabel. Dabei haftet allen Figuren etwas immanent Pathologisches an.
Moralisches Mitwisser-Dilemma
Durch das Rollen-Sharing verschwimmen die Grenzen zwischen Täter, Opfer und Mitwissern. Das verleiht der Inszenierung eine ganz eigene und spannende Note. Sehr gelungen die Szene um Nevin Yildirim, die Recht und Gerechtigkeit einmal mehr in Frage stellt. Ein letztes Aufbäumen liefert Tino Julian Zihlmanns Nevin. Unter große Tragik mischen sich aber auch komische Momente, wenn Felix Kruttkes Nurettin Gider in Superspion- und Matrix-Posen in das Haus der Strohwitwe einbricht. Weniger amüsant, dafür aber umso berührender der Mopp des Frauenchors, der sich auf den Vergewaltiger stürzt, um ihn mit Garn zu fesseln (Caroline Adam Bay, Felicia Chin-Malenski, Madeline Gabel, Eva Lucia Grieser & Sophia Schiller). Ganz selbstbewusster Patriarch lächelt Nurettin Gider nur süffisant und streift sich den roten Faden lässig ab – ehe er Jagd auf die Frauenschar macht. Intensive Szenen, die gerade durch ihre Reduziertheit unter die Haut gehen.
„Klappe zu, Affe tot“
Die Koordinaten zu den Tatorten werden an die Wand geklebt. Was an erste Druckversuche mit Geräten vor der Jahrtausendwende erinnert, dürfte andernorts für ein kleines Waldsterben sorgen. Tatsächlich zeitgemäßer erscheint da schon der Einsatz von Live-Kamera, die Chris Eckert auf den Angeklagten richtet und die die Perspektive verdoppelt. Kai Götting robbt als IS-Heimkehrer Nico Donath mit Mitwisser Sebastian Jehkul unter den Bühnenboden. Dort köpft er hingebungsvoll und sichtlich konzentriert kleine Papiermännchen, ehe ihn die engagierte Richterin (Caroline Adam Bay) hervorbrüllt. Eine gelungene Idee, die sich auch visuell homogen ins Konzept fügt. Indes wuselt der Rest des Chors als eifriges Reporterteam über die Bühne und teilen sich schaulustige Mitwisser angekaute Kaugummis.
Google Earth
Übrigens, wer jetzt neugierig geworden ist und die Koordinaten von MITWISSER in Google Earth eingibt, geht ebenfalls auf Reise. Vor dem weiß getünchten Bungalow in Port St. Lucie stehen drei Autos, die Haustüre ist offen. Koruyaka ist ein verschwommener visueller Klecks und die Häuserreihe in Dinslaken steht in einem Industriegebiet mit erstaunlich viel Grün. Mehr Einblick gibt Enis Macis MITWISSER am Thomas Bernhard Institut mit seiner ganz eigenen Wirklichkeit aus Fiktion, Märchen und Fakten. Unbequem, berührend und verdammt.
Fotonachweis: Thorben Schumüller
by