Virtuelles Bühnenexperiment in Salzburg: RECHT UND ORDNUNG von Chromosom XX und ARGEkultur
Sechs Schauspieler, sieben Gebote und eine losgelöste Bühne: Chromosom XX machte aus der Not eine Tugend und verlegte die abgesagte Premiere in den virtuellen Raum.
Mit Geboten hat’s die Menschheit. Egal ob die 10 aus dem Tanach, die 95 an der Kirchentür oder auch die tierischen 7 an der Scheunenwand. An die Präsentation letzterer erinnert auch RECHT UND ORDNUNG. Statt einer Farm eroberte das freie Theaterkollektiv Chromosom XX mit ihren „Gesetzen des Abends“ allerdings die Bühne der ARGEkultur.
Tatsächlich machte Chromosom XX mit RECHT UND ORDNUNG aus der Not eine Tugend. Das Theaterkollektiv befand sich mitten in der Endprobenphase, als die Empfehlungen der Regierung das Land zum Stillstand zwang. Theater mussten geschlossen bleiben – für alle, auch die auf der Bühne. Was also tun? Das über Berlin, Wien und Salzburg verstreute Ensemble entschied sich für den Global Way of Zoom. Statt die Köpfe in den Sand zu stecken, inszenierte man neu. Eine Herausforderung für eine Produktion, die vor allem auf Publikumsinteraktion setzen sollte. Eine kreative Flexibilität, die sich lohnte.
In Teamwork und (vermutlich) zahlreichen Videokonferenzen entstand eine spannende Produktion, die sich selbstbewusst dafür entschied, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufzudröseln und dabei vor allem auf den Einsatz „moderner Medien“ zu setzen. Das Publikum darf weiterhin partizipieren, gerade durch seine Abwesenheit. Auf diese Weise entstand ein ganz eigenes Theater-ERleben, das zum Mitdenken einlädt und sich der einfachen Berieselung verweigert, ohne dabei ins allzu Experimentelle abzudriften.
Der hellrote Faden von Chromosom XX
Die Bühne ist virtuell, allerdings nur für das Publikum und die vier zugeschalteten Mimen. Erstere kommen auf diese Weise sogar in den zweifachen (strenggenommen fünffachen) Bühnengenuss. Das Gemeinschaftsgefühl ist trotzdem da oder gerade deswegen, wenn sich die Video-Konferenzbilder aneinanderreihen und die Schauspieler*innen gesetzeskonform und voller Inbrunst die neue Ordnung besingen. An diesen Stellen kann man sich der subtil platzierten Ironie nicht erwehren, die sich wie ein hellroter Faden durch das Stück windet. Eine Paradedisziplin von Chromosom XX. Zeitkritik ja, aber bitte mit klugem Humor (Spielleitung, Dramaturgie & Assistenz Bernadette Heidegger, Armela Madreiter).
Die Lager sind klar verteilt. Während sich Musiker Axel (Axel Müller: Komposition & Livemusik) mit rotem Absperrband hinter Elektronik und Instrumenten verbarrikadiert und sein Heiligtum nur mit schwarzen Gummihandschuhen verlässt, wird Schauspielerin Caroline (Caroline Richards) zusehend nervös. Immer wieder trudeln Sprachnachrichten der abwesenden Kollegen*innen ein, die zuerst Verspätungen ankündigen und dann in Absagen kulminieren. Die Verwendung der realen Vornamen akzentuiert die Authentizität von RECHT UND ORDNUNG und treibt die Vierte Wand, gemeinsam mit temporeicher und flexibler Kameraführung, zielstrebig auf ihren Einsturz zu (Ausstattung & Filmschnitt Dagmar Lesiak, Kamera Florian Reittner).
Die öffentliche Meinung
Tatsächlich werden Caroline und Axel zu paradigmatischen Vertretern der inzwischen schon obligatorischen Lager. Während die eine die Welt nicht mehr versteht, hält der andere panisch alle auf Distanz. Die anfängliche gemeinschaftliche Euphorie und das Wir-schaffen-das-Gefühl schwinden zusehends. Die Bühne als Mikrokosmos der Gesellschaft, die an den Regeln der scheinbaren Demokratie rütteln und sie demaskiert.
Alexandra (Alexandra Sagurna) lächelt mitfühlend in die Kamera, predigt Marie Kondo und animiert Caroline zum Durchhalten, während sie feinfühlige Reden schwingt und emotionale Ausbrüche durchlebt. Lilli ist ganz Empathie und Fröhlichkeit (Lilli Strakerjahn). Sie verstehe den Unmut von Caroline ja und auch, dass sie sich alleine gelassen fühle, aber die Situation… Dann platzt ihr der Kragen. Statt des Wir dominiert das Ich und Regeln werden ab sofort flexibel interpretiert. Das erinnert an die Ambiguität der Regierungsentscheidungen in der Phase des Lockdowns. Caroline will sich über das Kollektiv erheben und stößt auf harsche Kritik sowie Liebesentzug der auf einmal Obrigkeit. Ihre Ratlosigkeit, Wut und Verzweiflung führen zu einer Katharsis.
Ein Stück für das Publikum ohne Publikum
Währenddessen geistert Volker durch die Stadt (Volker Wahl). Immer nur die Rückenansicht ist zu sehen und auf Carolines Zurufe erfolgt keine Reaktion. Eine spannende Assoziation, denn auch als Caroline endlich ihres Kollegen habhaft wird, festlegen lassen will der sich nicht. Stattdessen zelebriert er den windigen Staatsmann, der sich der Meinung des Volks entzieht und in bekannten Plattitüden des österreichischen Bundeskanzlers verliert, die das Ensemble kreativ kritisch auf die Situation des Publikums umlegte. Aus den einzelnen Stimmen, die nach einem konkreten Plan, nach der Dauer der Sanktionen und nach der Art des Vorgehens fragen, wird der Ruf nach Dramaturgie, Pause und wie lange das Stück überhaupt noch dauert. Eine pointierte und gelungene Übersteigerung, die eindrücklich demonstriert: Recht und Ordnung sind (meistens) Auslegungssache.
Und Paul? Paul verschwindet (Paul Hüttinger mysteriös und zwischen den Stühlen). Widerwillig und nur unter Protest – davor noch Hannah Arendt zitierend – verlässt er die heimischen vier Wände und plötzlich bricht auch die Kameraführung ab. Assoziationen zum BLAIR WITCH PROJECT mögen an dieser Stelle bewusst appliziert sein, mindestens genauso bewusst muss das Ende offen bleiben. Nicht nur, weil Glaskugeln vermutlich genauso rar sind wie Hefe, sondern auch, weil das Stück den Zeitfaden weiterspinnen darf. Im Herbst premiert RECHT UND ORDNUNG an der ARGEkultur vor tatsächlichem Publikum und zum zweiten Mal. Ob sich damit auch der Inhalt ändert? Hingehen und Ansehen schafft Abhilfe. 😉
Fotonachweis: Paul Schrader
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