WAISEN | theater.direkt

Waisen – theater.direkt Koveranstaltung mit ARGEkultur

DENN WOVON LEBT DER MENSCH.

Die Welt ist moralisch am … eh schon wissen! Und weil Theater gerne vom Zeitgeist handelt, holte Michael Kolnberger mit WAISEN einen packenden Psychothriller auf die Bühne der ARGEkultur. Großes Kino, äh, Theater auf kleinstem Raum!

„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Bei Brechts Mackie Messer sind die Prioritäten klar gesetzt. Das war auf den Tag vor ziemlich genau 90 Jahren. Die Gesellschaft und ihre Probleme haben sich seither nicht geändert. Wenn Theater Zeitgenössisches widerspiegelt, dann darf Dennis Kellys „Waisen“ Pate stehen – Pate für eine von flexiblen Moralzuständen und beliebig interpretierbarer Zivilcourage gebeutelten Zeit. Michael Kolnberger inszenierte den Stoff als spannenden Psychothriller an der ARGEkultur. Die Moral muss sich einmal mehr hinten anstellen, jetzt dominiert die Familie.

In aller Plot-Kürze

Eigentlich meinte es das Schicksal ziemlich gut mit Helen und Danny. Das gutbürgerliche Paar hat eine gemeinsame Wohnung irgendwo in London, sichere Jobs, einen kleinen Sohn und feiert gerade die Schwangerschaft mit Baby #2. Als Helen und Danny von ihrer Baby-Sause nach Hause kommen, steht bereits ein blutüberströmter Liam mitten im Raum. Helens jüngerer Bruder erzählt eine wirre Geschichte von einem Unfallopfer, dem er auf offener Straße geholfen habe, ehe der Unbekannte verschwand. Danny will die Polizei rufen, um den mysteriösen Jungen zu finden. Helen hält das für keine gute Idee, schließlich ist ihr Bruder vorbestraft. Dann aber verstrickt sich der scheinbar unschuldige Liam immer stärker in Widersprüche und die Handlung gewinnt an Brisanz.

Laut, lauter, WAISEN

Manchmal pirschen sich Albträume auf leisen Sohlen heran. Manchmal schlagen sie aber auch mit viel Krach und Lärm auf – wie in Michael Kolnbergers Inszenierung von Dennis Kellys WAISEN (Raum und Kostüme: Arthur Zgubic). Zu lauten Beats und unter heftigem Herumgefummle der beiden Protagonisten folgt Schlag auf Schlag der Einfall von Helens jüngerem Bruder Liam – und damit der Auftakt des spannenden Psycho-Reigens. Diese Lautstärke ist kein zufälliges Randprodukt, sondern szenisch bewusst appliziert. Akustisch in die Vollen gehend, begleitet sie die temporeichen Blacks und spornt zu umbautechnischen Höchstleistungen an. Hier legt Schauspieler*in schließlich noch selbst Hand an. Für die sporadisch auftretenden dialogischen Aggressionsschübe entpuppt sich das Volumen ebenfalls als sehr förderlich und zieht sich längst leitmotivisch durch das Stück. Ein stimmiges Konzept, das die unterschwellige Streitbarkeit – die in Michael Kolnbergers Inszenierung anfangs noch klug kaschiert wird – proleptisch aufgreift und multipliziert. WAISEN | theater.direkt

„Family first!“

Das Ensemble steht vor der großen Aufgabe, sich durch ein breites Gefühls-Kaleidoskop zu spielen. Und das sollte für das Zuschauerauge bestenfalls nicht auf Anhieb durchschaubar sein – Psychothriller-Charakter und so. In der Salzburger WAISEN-Adaption ist keine Figur, wie sie vordergründig scheint. Das fördert die Spannung und zieht in Bann. Als verliebtes und aufstrebendes Bildungsbürgertum-Pärchen überhäufen sich Helen (Marena Weller) und Danny (Max Pfnür) nicht nur mit Zärtlichkeiten, sondern scheinen rundum zufrieden. Das moralischen Dilemma ist aber spätestens mit Liams Bericht allgegenwärtig. Man könnte Helen und Danny wunderbar in Good Cop, Bad Cop unterteilen, würde damit aber gleichzeitig viel zu kurz greifen.

Marena Weller legt ihre Helen fröhlich-ambivalent an. Familientreu bis zur Selbstaufgabe nimmt sie für das brüderliche Wohl auch Opfer in Kauf; das Leben ist schließlich kein Ponyhof und den unbekannten Verletzten auf der Straße, den kenne man ja nicht einmal. So weit, so banal. Helens heiteres Naturell, das mit ihren harten Worten kollidiert, kreiert eine wunderbare und bisweilen tragisch-komische Ironie.  In WAISEN sind die Figuren aber nie einfach nur schwarz oder weiß gezeichnet – es dominieren Schattierungen, die sich genauso vielfältig anlassen wie die unterschiedlichen Moralvorstellungen. Die Folge sind eindrückliche Verwandlungen, die einen düsteren Blick auf moralische Abgründe erlauben.

Abrakadabra – und er war nicht mehr da

Verwandlung beherrscht auch Max Pfnürs Danny, der vor allem in den allerletzten Minuten grandiose Knallkraft entwickelt.WAISEN | theater.direkt In farbintensiver Chino, sehr roten Socken und mit Smiley-Aufstecker am Hosenbein hat sich Danny mit Good-Cop-Attitüde (und vermutlich bourgeoiser als die Bourgeoisie) dem Erhalt der moralischen Werte verpflichtet. Einen Verletzten hilflos zurücklassen? Unmöglich. Mit sanfter Stimme und bei jedem Fluch ein „Ausdruck!“ anmahnend, erscheint Danny als strahlender Inbegriff an Milde – der seiner Frau lieber den Rücken krault als abends alleine auf die Straße zu gehen. Ein Grund dafür ziert seinen Hals. Danny war bereits das Opfer eines Überfalls – wer ihn genau so zugerichtet hat, weiß man nicht. Irgendwelche Ausländer, unsichere Nachbarschaft und Ähnliches mutmaßt das Figuren-Ensemble. In WAISEN wird viel nur angedeutet, das Publikum mit Anspielungen in bestimmte Richtung gesandt und genau diese mysteriösen Leerstellen lassen die Imagination auf Hochtouren rattern. Das kulturelle Gedächtnis nimmt Fährte auf, wenn es aktuelles Geschehen mit den offenen Bereichen verknüpft. Langsam bröckelt die Heile-Welt-Fassade der Familie. Immer wieder schießt Danny ironisch dazwischen und lässt sich dann doch bereitwillig manipulieren. Das Wechselspiel der Gefühle wird bei Max Pfnür vor allem stimmlich deutlich; sein Tonfall oszilliert zwischen den unterschiedlichen emotionalen Stadien – von harmlos bis zu gefährlich leise, von fröhlich laut bis wütend aggressiv.

Nachtigall, ick hör dir trapsen

Auf Liam ruht von Anfang an das Wissen der Besucher*innen, die zuvor den Programmflyer überflogen haben. Liam – ah ja, da muss doch was passieren, der kann doch nicht die Wahrheit sagen. Tut er auch nicht. Aber Wolfgang Kandler schafft es, so geschickt davon abzulenken, dass es erstaunt. Sein Liam lässt sich altersmäßig schwer festlegen.WAISEN | theater.direkt Gekleidet wie ein bockiger Teenager, das Verhalten eines naiven Kindes und das Aggressivität-Potential eines Schwerverbrechers – eine explosive Mischung, die nicht immer schlüssig scheint (wie alt ist Liam eigentlich wirklich?), Wolfgang Kandler aber großartig verpackt. Zitternd und nervös steht er nach dem Vorfall in Helens Wohnung, verschwörerisch schlägt er mit Ghetto-Faust bei Idol Danny ein. Und dann ist da ja diese unsagbare Naivität; die lässt den komplizierten jungen Mann mit Tränen in den Augen von der Hochzeit seiner Schwester schwärmen und wie sehr er sich für sie gefreut habe. Ganz großes Kino, das unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn er sich immer häufiger in Widersprüche verstrickt, plötzlich unglaublich aggressiv wird und die Sache nicht nur moralisch völlig aus dem Ruder zu laufen droht.

Fingerzeig auf das Problem

Den intensiven Charakter des Schauspiels verstärkt die Bühne. Die wird für Kolnbergers WAISEN zum Tableau vivant. Sprichwörtlich, denn wie auf einem lebenden Bild stehen die Schauspieler*in auf der erhöhten Spielfläche, die im Laufe der Handlung langsam nach unten geschraubt wird. Selbstverständlich in Eigenregie. Das Publikum hübsch auf drei Seiten drapiert. Der Fall der Moral wird gerade mit diesen reduzierten Mitteln zum Volksspektakel und paradigmatisch; das Dilemma um die mangelnde Zivilcourage beschränkt sich nicht auf das Dialogische, sondern ist auch im Szenischen höchst präsent. Eine findiger Einfall, der nach dem letzten Bild von einem „All you need is love“ abgerundet wird. Oh du böse Ironie, die du den Finger genau in die Wunde legst – und noch einmal zudrückst. Immer fest drauf. Wunderbar.

www.max-pfnuer.com
Fotonachweis: Piet Six

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2 Kommentare

    1. Author

      Super! Dann wünsche ich schon jetzt einen spannenden Abend. 🙂

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