Zurück aus der Cloud: “Bleib” von Azilys Tanneau
Mögen die Ethik-Spiele beginnen! Verena Holztrattner inszenierte am Schauspielhaus Salzburg die deutsche Erstaufführung von Azilys Tanneaus „Bleib“ – und sorgt im modernen KI-Kammersetting für ordentlich Zündstoff.
Osiris, das ist der ägyptische Totengott. Osiris, das ist neuerdings aber auch ein KI-Start-up, das sich darauf spezialisiert hat, Verstorbene digital zurückzubringen – oder zumindest deren Avatare. Eine Unterhaltung mit der digitalen Oma, um das geheime Lieblingsrezept zu erfahren? Ein paar Handwerkstricks vom virtuellen Opa? Oder den Erbtante auf Knopfdruck? Klingt für manche verlockend, für andere wie ein wahr gewordener Albtraum.
Doch die Schnappatmung darf eingestellt werden, beides trifft nicht (ganz) zu. Stattdessen ist das KI-Experiment Teil von „Bleib“, einem Kammerspiel der jungen französischen Dramatikerin Azilys Tanneau. Verena Holztrattner (Regie) bringt den Stoff für das Salzburger Schauspielhaus in Kooperation mit dem Thomas-Bernhard-Institut der Universität Mozarteum auf die Bühne. Entstanden ist eine bedrückende wie faszinierende Symbiose, die konstant zwischen Utopie und Dystopie pendelt. Ausstattung: Thomas Garvie, Musik: Valentin Danler, Dramturgie: Julia Thym, Video: David Haunschmidt.
In aller Plot-Kürze
Mithilfe von Osiris lässt eine Mutter ihre verstorbene Tochter Aurore durch eine digitale Kopie „wieder auferstehen“, geschaffen aus Social-Media-Daten und Tagebüchern. Während sie sich immer tiefer in diese künstliche Version ihrer Tochter flüchtet, bleibt die echte Familie auf der Strecke.
Völlig losgelöst
Was „Bleib“ so besonders macht, ist seine Ambivalenz. Diese Vielschichtigkeit wird auch im Stück selbst verhandelt: Der überlebende Zwilling ruft Janus an – den römischen Gott des Anfangs und des Endes. Rene Eichinger spielt diesen Zwillingsbruder, der mit Jan den passenden Namen trägt, verzweifelt, resigniert und ziemlich wütend. Ironischerweise ist es gerade er, der Lebende, den die trauernden Eltern kaum wahrnehmen. Stattdessen fixieren sich die beiden auf die tote Schwester Aurore. Während die Mutter (Daniela Meschtscherjakov) sich dabei im Verlust beinahe selbst verliert, ist der Vater (Marvin Rehbock) nur nach außen ein Fels in der Brandung. Innen sieht es bei ihm zappenduster aus – eine Dunkelheit, die durch die plötzlich plaudernde KI der Tochter ungewollt nach außen dringt.
Jetzt wird’s persönlich: “Bleib”
Hier liegt ein weiterer Knackpunkt von „Bleib“: der kritische Umgang mit künstlicher Intelligenz und den Daten, die wir ihr anvertrauen. Im Stück opfert die Mutter nach und nach private Erinnerungen, um den Avatar ihrer verstorbenen Tochter zu „füttern“. Doch das hat seinen Preis. Das Wesen im geschützten Raum wird zornig, verletzend und wirft mit dem sensiblen Wissen um sich. „Bleib“ öffnet zahlreiche ethische Diskurse, die emotional im Stück thematisiert werden. Aurore wurde nie gefragt, ob sie geboren werden möchte. Jetzt kümmert es wenig, dass sie tot sein will. Das sitzt.
Die Schauspieler:innen leisten hier wirklich Großartiges. Allen voran Daniela Meschtscherjakov und Marvin Rehbock, die die Verzweiflung ihrer Figuren auf konträre Weise, aber unglaublich nuanciert und ausdrucksstark, auf den Punkt bringen.
Trügerischer Morgen
In „Bleib“ ist jeder Name ein sprechender. Aurore steht für Morgenröte, doch davon ist nur in den ersten Tests der KI-Algorithmen noch etwas zu erkennen. Vor einem Hintergrund, der an Windows-Bildschirme erinnert (Video: David Haunschmidt), tritt die digitale Aurore (Leonie Berner) auf: puppengleich, mechanisch, zunächst fast tröstlich. Doch schnell zeigen sich die ersten Risse – das Bild beginnt zu rauschen, die Perfektion bröckelt. Diese Brüchigkeit wird durch die Inszenierung und das Flimmern der Videoprojektionen verstärkt. Zusätzlich hüllen die Szenenwechsel die Bühne in tiefes Schwarz, als würde sich jetzt sogar die Realität verweigern. Ein schmerzhafter, ja, eigentlich schon brutaler Kontrast, nicht nur für die Mutter.
Leonie Berner gibt Aurore als faszinierende Mischung aus täuschend echt und beklemmend künstlich. Ihre Bewegungen sind abgehackt, ihr Lächeln strahlend, und ihre Entschuldigungen zu höflich, um menschlich zu sein. Da unterscheidet sie sich von aktuellen KI-Modellen, die lieber halluzinieren, als Unwissenheit preiszugeben. Doch „Bleib“ spielt mit einer Zukunftsvision – in der trotzdem noch genügend Platz für die „richtige“ Aurore bleibt, die als Geist durch die Familie spukt. Nie gehört, nie gesehen, aber immer tröstlich.
“Bleib” als Totentanz, programmiert für die Ewigkeit
In der Rolle des Osiris-Projektleiters glänzt Enrico Riethmüller. Er gibt den aalglatten Marketingstrategen, der um Avatare pitcht und trauernden Kunden die letzten Euros aus der Tasche zieht. Seine mephistophelische Präsenz verleiht dem Stück eine spitze, fast zynische Note. Mit einem Wort: wunderbar.
Es ist offensichtlich: Azilys Tanneau reiht sich mit „Bleib“ in die lange Tradition der Totentanz-Literatur ein. Was im Mittelalter an Kirchenwände gepinselt wurde oder Handschriften verzierte, später in Texten wie „Der Ackermann“ von Johannes von Tepl oder Petrarcas „Trionfo della Morte“ aufgegriffen wurde, steht mit KI verwoben erneut auf dem Prüfstand und hat sich kein bisschen verändert. Der Tod ist verdammt ungerecht. Verena Holztrattner verpasst ihm für „Bleib“ eine moderne Hülle. Schmerzen darf es dennoch. Manchmal wird es heiter sein, manchmal aufwühlend. Doch die Inszenierung regt immer zum Nachdenken an – und erinnert uns an das Wichtigste überhaupt: Memento mori.
Fotonachweis: Jan Friese // Schauspielhaus Salzburg
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