Überall nirgends lauert die Zukunft – Theater bodi end sole & ARGEkultur

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“ – bei Elfriede Jelinek so aktuell wie in Vladimir Vertlibs ÜBERALL NIRGENDS LAUERT DIE ZUKUNFT (Regie: Christa Hassfurther) in der ARGEkultur.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wer damit angefangen hat. Das ist vielleicht ein wenig kokett, natürlich habe ich da so eine Ahnung. Aischylos gab den Flüchtenden zuerst einen Chor und nannte seine griechische Tragödie „Die Schutzflehenden“. Die fünfzig Töchter des Danaos flüchteten vor der Eheschließung mit ihren eigenen Vettern. Höchst verständlich. Davor die Bibel. Gänzlich ohne Chor. Auch klar. Viele, viele, VIELE Jahre später – wir schreiben 2013 – reagierte Elfriede Jelinek mit „Die Schutzbefohlenen“ auf die Ereignisse in Lampedusa und die Besetzung der Votivkirche. Das Vorbild war Aisychlos und deshalb war er da wieder, der Chor aus Flüchtlingen. Diesmal auch mit realen Schutzsuchenden bestückt. „Die Schutzbefohlenen“ ging um die deutschsprachige Theaterwelt. Neue Stücke ähnlicher Thematik erblickten das Licht der Theaterwelt. Im Nationaltheater in Mannheim premierte „Ein Blick von der Brücke“ / „Mannheim Arrival“, im Theater Nestroyhof Hamakom „badluck“, im Theater Bonn „Heimat (n)irgendwo“, an der Jungen Burg „Gimme Shelter“, im Dschungel Wien „Romeo und Julia – freestyle“. Die Liste ist lang und ließe sich beliebig fortsetzen. Vielleicht war das inflationäre, ja, geradezu pilzhafte Aus-dem-Boden-Sprießen der flüchtlingslastigen Stücke Movens für Claus Peymann in einem ZEIT-Interview zu äußern, dass „die Art und Weise, wie die Flüchtlingskrise auf die Bühne geholt werde, etwas ungeheuer Hilfloses habe.“

Hat sie allerdings keinesfalls, lieber Herr Peymann. Vielmehr greifen die verschiedenen Inszenierungen des Flüchtlingsdiskurses gesellschaftspolitische Missstände auf und tragen hoffentlich zur Änderung der aktuellen Lage bei. Von hilflos kann dabei keine Rede sein. – Genau so ein Stück Aktionstheater ist auch die Uraufführung von Vladimir Vertlibs ÜBERALL NIRGENDS LAUERT DIE ZUKUNFT, das Christa Hassfurther mit dem Theater bodi end sole an der ARGEkultur inszenierte (Bühne: Alois Ellmauer, musikalische Leitung: Sophie Hassfurther). Dabei entpuppte sich das Projekt als sehr wandelbarer und höchst lebendiger Organismus, der auf persönliche Erlebnisse und Perspektiven setzt und von den mitwirkenden Asylsuchenden maßgeblich mitgestaltet wurde. Und ja, es gibt auch hier den jetzt bereits schon obligatorischen Chor der Flüchtlinge.

Die Koproduktion handelt von einem alten Mann, David, der die Shoah überlebte. Als sogenannte „Displaced Person“ kam er in ein Lager für DP, irgendwo in Deutschland oder Österreich, ehe er nach Palästina fliehen konnte. 70 Jahre später kehrt David kurz vor seinem Tod zurück, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln. Das ehemalige Flüchtlingsheim ist jetzt wieder ein Flüchtlingsheim, nur sind dort jetzt keine Juden mehr untergebracht, sondern Syrer, Iraker und andere Schutzsuchende. 2016-04-20-Arge-Überall-Nirgends-223Die Situationen gleichen sich auf unheimliche Art und Weise; es sind ähnliche Sorgen und Nöte, Ängste und Befürchtungen, die die Heimbewohner*innen plagen. Vor dem Flüchtlingsquartier werden einschlägige Demos abgehalten, Brandanschläge verübt und die Politik wirkt desinteressiert.

Die Inszenierung stimmt nachdenklich. Es ist eine melancholisch-düstere Tendenz, die sich durch ÜBERALL NIRGENDWO LAUERT DIE ZUKUNFT zieht und manchmal von ironisch-bissigen Kommentaren durchbrochen wird. David (Jurij Diez) streicht als Shoah-Überlebender mit melancholischer Miene und philosophischem Gestus leise und bedacht durch das Bühnenbild. Immer anwesend vor, auf oder neben der Bühne, symbolisiert David die stets präsente Vergangenheit. (Und ähnelt optisch so stark de2016-04-20-Arge-Überall-Nirgends-226m deutschen Tenor Jonas Kaufmann, dass sich dieser Vergleich den ganzen Abend nicht mehr abschütteln lassen will). Die Bühne selbst besteht vor allem aus einem grobmaschigem Geflecht großer Pappgestänge, einem einzigen Pappmaschennetz, auf das sich Stolpern ungünstig auswirken könnte. Dazwischen, über den Köpfen der Flüchtlinge und Bürger*innen thronend, das Büro der Bürgermeisterin (Dorit Ehlers). Physisch ist sie genauso entrückt wie psychisch. Ihre Meinung teilt sie deshalb auch vorsichtshalber nur mit dem Publikum. Es geht immerhin um Wählerstimmen. Die Journalistin (Anna Russegger) stakst und trippelt derweil durch die gesellschaftspolitischen Ereignisse. Anders scheint ein Fortkommen auf den Brettern, die diese diffizile Bühnenwelt bedeuten, auch nur schwer möglich. Damit oszilliert das Bühnenbild zu einer hervorragenden Metapher für die Situation der Flüchtlinge. Gleichzeitig führt die Lokalreporterin mit ihren naiv-einfachen Fragen durch die Handlung und verknüpft wie zufällig die Enden der einzelnen Erzählstränge.
Alle Schauspieler*innen haben Migrationshintergrund? Nun ja, die Mitglieder der Freien Szene stammen zum Gros eigentlich aus Deutschland. Aber irgendwie ist das in Österreich doch auch Migration, oder? 😉

Die ganze Tragweite von NIRGENDWO ÜBERALL LAUERT DIE ZUKUNFT entfaltet sich im Laufe des Abends. 2016-04-20-Arge-Überall-Nirgends-653Szenische Retrospektiven skizzieren  die Strapazen der Schutzsuchenden und holen die Flucht auf die Bühne. Gleichzeitig demonstriert die Geschichte des Shoah-Überlebenden die erschreckenden Parallelen zu aktuellen Tendenzen. Der Mopp skandiert grausam vor dem Flüchtlingsheim und sucht, von David darauf angesprochen, nach Ausflüchten. Man habe ja gar nichts gegen die Juden, aber die Füchtlinge… Dieses „aber“ bleibt im Raum hängen, auch wenn das Publikum bereits wieder nach draußen strömt. So richtig scheint sich bei NIRGENDWO ÜBERALL LAUERT DIE ZUKUNFT kein Happy End einstellen zu wollen. Das verwundert allerdings auch nicht. Aber die stehenden Ovationen und die Euphorie in den Zuschauerreihen zeigen, dass die Geschichte der Flüchtlinge nicht dystopisch enden muss.

 

Bildernachweis: Mike Größinger // ARGEkultur

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