Schiff ahoi, Grace!
Max Claessen packt mit DOGVILLE am Schauspielhaus Salzburg die Seeräuberjenny aus: nur manchmal still, mitunter laut und ein moralischer Wink mit dem Zaunpfahl, ach was, dem Empire State Building.
Wenn Gott von der Menschheit endgültig die Schnauze voll haben sollte, dann könnte das so aussehen wie bei Lars von Trier. Der Brecht Schüler schuf mit DOGVILLE eine Parabel über das Scheitern des Menschengeschlechts. Dabei machte der Däne keine halben Sachen, sondern packte die alttestamentarische Moralkeule aus. Mit den Mitteln des epischen Theaters kreierte er ein Filmerlebnis, das gerade durch seine Stille und Reduktion fasziniert und in Bann zieht. Max Claessen holt das epische Theater zurück ans, nun ja, Theater eben. Für das Schauspielhaus Salzburg inszenierte der Regisseur Lars von Triers DOGVILLE und zwingt das Publikum mit seiner adaptierten Version zum Innehalten und Nachdenken.
In aller Plot-Kürze
Irgendwo in den Rocky Mountains liegt die „bezaubernde kleine Stadt“ Dogville, deren Einwohner „brave, ehrliche Bürger“ sind. Zumindest behauptet das der Erzähler. Einer von ihnen ist Tom. Tom versteht sich als Schriftsteller, auch wenn er noch nie etwas zu Papier gebracht hat. Dafür hält der Hobby-Philosoph gerne Moralpredigten im Missionshaus der Stadt. Als er eines Tages Schüsse hört und eine junge Frau ins Dorf flüchtet, kommt sie ihm als Exempel gerade recht. Mit ihr will er die Moral seiner Mitbürger auf die Probe stellen. Würden sie Grace verstecken und sie vor ihren Verfolgern schützen oder die junge Frau ausliefern? Nach ersten Unstimmigkeiten beschließt das Dorf, der jungen Frau Asyl zu gewähren. Im Gegenzug bietet sie auf Toms Anregung ihre Arbeitskraft an.
Grace ist endlich in der Dorfgemeinschaft angekommen, als ein Polizist in der Stadt steht. Die Bewohner von Dogville sind verunsichert. Nach dem zweiten Polizeibesuch macht sich Unmut breit. Tom schlägt vor, dass Grace für das erhöhte Risiko noch mehr arbeiten solle. Die junge Frau ist einverstanden, doch zunehmend wird Kritik an ihr laut. Es kommt zu ersten Übergriffen vonseiten der Männer. Grace nimmt die Bewohner in Schutz. Irgendwann eskaliert die Situation; Grace wird vergewaltigt und nach einem Fluchtversuch zur Sklavin degradiert. Mit Hundehalsband und Glöckchen hängt sie an einer Eisenkette. Die Männer fallen wie selbstverständlich über sie her, die Kinder verspotten sie. Schließlich hält Tom die Situation nicht länger aus. Er wählt die Nummer, die ihm Graces Verfolger damals zusteckten. Dann stehen sie plötzlich in der Stadt.
Wer braucht schon einen Hangar?!
Zugegeben, die Fußstapfen sind stattlich, die Max Claessen mit DOGVILLE zu füllen hat. Lars von Trier, Brecht und wie sie nicht alle heißen. Das kümmert den Regisseur aber wenig. Forsch und selbstbewusst packt er seine Variante der Seeräuberjenny aus und rollt den exemplarischen Gang vor die Hunde des Menschengeschlechts motiviert aus. Da er konträr zu Lars von Trier dabei über keinen schwedischen Flughafenhangar verfügt (der in Salzburg wäre ohnehin zu gläsern und flügellastig), muss sich die Inszenierung mit weniger Raum begnügen. Das führt zu einer starken Verdichtung. Ganz wie Brecht Schüler Lars von Trier setzt Claessen auf Antinaturalismus und Reduktion. Nur die wichtigen, also die wirklich, wirklich wichtigen Requisiten sind haptisch präsent. Der Rest ist aufgeklebt und orientiert sich am DOGVILLE’schen Original.
Sündenfall im Schwarzen Garten Eden
Das Setting mag latent gedrungen wirken. Kein Wunder, das Ensemblestück fasst dreizehn Personen inklusive eines Live-Musikers (Christopher Biribauer), da kann es auf der Bühne schon mal kuschelig werden. Konträr zur filmischen Variante entfallen deshalb die großen, bedächtigen Gänge. Stattdessen zieht es die Bewohner immer wieder zurück in die skeptische Beobachterposition. Das Regiekonzept nutzt das Platzproblem zu seinem Vorteil. Die braven, ehrlichen Bürger Dogvilles stehen bereits bei Einlass starr und fein säuberlich am Bühnenrand Spalier. Wie emotionslose Schachfiguren harren sie der Dinge. Ein spannendes Tabelau vivant, das die umtriebige Denkerpose Toms unterstreicht. Erst wenn die Bewohner einzeln in den Fokus treten, wird ihnen Leben und damit Emotionen eingehaucht. Die oszillieren von charmanten, engstirnigen Macken zu bösartigen Zügen. Beides ist Teil der Brecht’schen Verfremdungstaktik und führt dazu, dass das Publikum der Eliminierung der Kleinstadt mit Gelassenheit beiwohnt.
Dass die Prüfung in Dogville nicht gut ausgehen kann, lässt bereits das Bühnenbild (Max Claessen) erahnen. Schwarz trifft auf Schwarz. Das marode Baum-Überbleibsel im Zentrum ist genauso verfault und tot wie die Früchte an den Apfelbäumen in Chucks Obstgarten oder die Seelen der Bewohner. Gerade das prädestiniert den abgestorbenen Baum aber zum omnipräsenten Mahnmal der Kleinstadt und zum Symbol des paradigmatischen Sündenfalls. Grace steht im Englischen für Gnade. Die Figur Grace (Tilla Rath) kommt als Flüchtige ins Dorf, bietet sich demütig dar und wird zur Versuchung, der die Dorfbewohner nicht widerstehen können. Statt maßvoll mit dem Geschenk umzugehen, werden sie gierig. Der Sündenfall im Garten Eden erlebt ein düsteres, aber gelungenes Revival.
Female Empowerment
Tilla Rath setzt für ihre Grace auf Female Empowerment. Anfangs zurückhaltend, ist unter der Oberfläche bereits eine Kraft zu spüren, die sich kaum bündeln lässt. Spätestens als Grace ihren Verfolgern gegenübersteht, bricht es aus ihr hervor. Ist bereits der Moment stark, als sie Tom kühl und kassandrahaft verkündet, es werden ein Unglück geschehen, da er die Männer gerufen habe, eruptiert der Vulkan Grace kurze Zeit später endgültig. An Lars von Trier orientiert, mag es zuviel des Guten sein. Seine Grace punktet gerade durch ihre biblische Sanftheit und Reduktion. Selbst als sie in „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Manier die Erschießung der Kinder anordnet, ist da noch Mitleid präsent. Gleichzeitig drückt Max Claessen dem Stück mit dieser neuen, ungestümen Wildheit seinen Stempel auf.
Dance Mephisto
In ähnliche Richtung tendieren Erzähler und Der große Mann (Bülent Özdil). Als Erzähler bringt Bülent Özdil Distanz und ermöglicht die Moral-Schau im Brecht’schen Verfremdungssinne. Gleichzeitig hat die Figur nur noch wenig von seiner gottgleichen Position. Özdils Erzähler wirkt vielmehr wie sein maliziöser, mephistophelischer Bruder, ein gefallener Engel; voller Schadenfreude kommentiert er das Geschehen und kokettiert dabei immer wieder mit dem Zynischen.
Bülent Özdils Der große Mann wiederum ist ein Entertainer, der die verlorene Tochter mit einem Diskurs über die Arroganz zurück ins Familienbusiness holen möchte. Da Graces Verfolger im Schauspielhaus über kein Auto (und keine Männer) verfügen, symbolisiert der Bühnennebel den Auftritt des Fremden und wird zu einer visuellen Metapher, die sich leitmotivisch durch das Stück windet. Ein gelungen diabolischer Effekt, der bisweilen von grellem Scheinwerferlicht begleitet wird und in einer Handnebelmaschine süffisant kulminiert (oh diese Möglichkeiten, die Brecht noch gar nicht zur Verfügung standen!). Schade nur, dass die kassandrahaften Lichtveränderungen in Salzburg entfallen.
„Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“
Die moralische Disposition der Bewohnern von Dogville drückt sich großartig in der Schwarz-Weiß-Malerei ihrer Kleidung aus (Kostüme: Isabel Graf). Gleichzeitig könnte die aber auch auf die Diskrepanz von Arroganz und Demut verweisen, die eine zentrale Rolle im Spiel einnehmen. Dafür spräche auch, dass Simon Jaritz-Rudles Tom ganz in Schwarz auftritt. Optisch perfekt dem Pseudo-Intellektuellen angepasst, kokettiert die Figur mit ihrer moralischen Erhabenheit, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Dadurch führt sich Tom konsequent selbst ad absurdum. Auch hier wird deutlich: Die Inszenierung spöttelt mit Vorliebe über das Menschengeschlecht und steht seiner moralischen Integrität skeptisch gegenüber. Immer wieder kann sich dieser Tom seines ironischen Untertons nicht erwehren und freut sich mit zunehmendem Abend sichtlich über sprachliche Mehrdeutigkeiten.
Knallharte Dekonstruktion
Stark ist die Szene der drei Frauen. Als Vera (Susanne Wende) Sohn und Mann rächen will, zertrümmert sie maliziös und genussvoll die mühevoll gesammelten Figurinen von Grace. Während die junge Frau in Tränen ausbricht, gibt sich Liz (Magdalena Oettl) ungeniert ihrer aufgestauten Boshaftigheit hin und garniert sie mit einem schrillen Schrei. In Glorias (Kristina Kahlert) Reaktion wiederum spiegelt sich der moralische Kampf im Gestischen und kulminiert ebenfalls in einem Schrei, einem sehr verzweifelten.
Die Männer von Dogville gehen es da schon etwas ruhiger an. Christopher Schulzers Bill ist wunderbar einfältig; mit Trippelschritten und persistenter Sorgenfalte im Gesicht läutet er pflichtbewusst die Glocke und stellt dümmliche Fragen. Marcus Marottes Jack McKay schwingt eine emotional-resignierte Rede, als er sich von Grace in seiner Blindheit ertappt wähnt und Theo Helms Ben sorgt sich rührend und in naivem Ton um sein Fahrgeschäft.
Klappe zu, Affen tot
Das Spannende an Max Claessens Inszenierung ist, dass sie sich in den ersten Teilen sehr an Lars von Trier orientiert. Erst an später Stelle emanzipiert sich das Stück immer stärker von seiner Vorlage und enthüllt mit der selbstbewussten, starken Frau seine feministische Seite. Die darf dann zum ersten Mal alle Bewohner Dogvilles selbst eliminieren – übrigens mit gelungener Schussperformance, auch wenn zu aggressivem ‚Siegestanz‘. Klappe zu, Affen tot. Generell ist Claessens DOGVILLE genau dann am stärksten, wenn es das antinaturalistische Prinzip konsequent durchexerziert, auch im Szenischen oder gerade dort. Die Vergewaltigungen erreichen bedrückende Eindrücklichkeit, wenn sie sich dem Auge entziehen. Sei es unter der Plane oder durch die variablen Berührungen – je nach Temperament der Figuren. Statt Stille setzt dieses DOGVILLE Inszenierung auf Lautstärke. Die schraubt sich zu fortgeschrittener Stunde in ungeahnte Höhen. Für Besucher mit funktionierendem Gehör nicht immer einfach zu wuppen. Aber das ist ja auch schon wieder im Sinne von Brechts epischem Theater. Und sonst? Mission erfüllt, ein Lehrstück über die Moral mit feministischem Zugang und leitmotivischen Live-Tönen zwischen den Wechseln.
Fotonachweis: Jan Friese
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