Wien zum Fin de Siècle.
Anatol ist ein ichbezogener Melancholiker, der in der Gegenwart bereits an die Zukunft denkt und dem dadurch jeglicher Genuss des Moments verwehrt bleibt. Außerdem ist Anatol die titelgebende Figur in Arthur Schnitzlers Einakterreihe ANATOL, die depressiv und melancholisch das Wesen seines Protagonisten beleuchtet.
„Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. […] Sie war wieder eine von denen gewesen, über die ich hinweg musste. […] Sie […] war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode.“
Die Rezeption des Stoffs ist nicht immer unbedingt vergnüglich. Die eingestreuten heiteren Augenblicken lauern unterschwellig und können die tiefe Stimmung der Dialoge nicht persistent mindern. Umso schöner also, dass am Landestheater eine erstaunlich gute (und bisweilen ziemlich amüsante) Interpretation des Schnitzlerschen Stoffs gelungen ist (Inszenierung: Michael Gampe). Freilich wäre es von Vorteil, wenn das Stück an etwas anderer Szene einsetzen könnte, aber dazu später mehr.
Anatol und Max. – Die Besetzung des melancholisch-narzisstischen Schwerenöters ist vorzüglich und war vorauszusehen. Natürlich ist die Wahl auf Sascha Oskar Weis gefallen. Hätte ich es mir aussuchen dürfen, wäre das Resultat das gleiche. Anatol liegt ihm, obwohl der Charakter weder heiter noch diabolisch ist. Melancholisch sein Blick, depressiv die Laune; Anatol geht es sichtlich schlecht, wenn er über seine verschiedenen Beziehungen sinniert. Derer hat er viele, schließlich ist es bei den Geliebten wie mit den Büchern, er kann sich nicht auf eines beschränken und muss ständig mehrere gleichzeitig lesen. Freund Max (Gero Nievelstein) ist ihm nur bedingt eine Hilfe; dessen Ratschläge sind zwar klug durchdacht, Anatol ist aber beratungsresistent und möchte sich lediglich in der eigenen Meinung bestätigt wissen. Max weiß das oder ahnt es zumindest; eine ironische Note durchzieht seine Dialoge.
Die Frauen punkten. – Und dann sind da noch die verschiedenen Frauentypen, das weibliche Repertoire an Anatols Geliebten. Schnitzler hat sie in die für ihn typischen Kategorien unterteilt: Vom „süßen Mädl“ bis zur „Mondainen“ sind sie alle vorhanden und köstlich dargestellt. Die Frauen punkten. Da ist Cora (Johanna Elisabeth Rehm), die sich quirlig naiv von Anatol hypnotisieren lässt und begeistert mitwirkt. Oder Bianca (Claudia Carus), die Zirkusartistin und weitere große Liebe von Anatol in der langen Liste seiner großen Lieben, für die er zwar schwärmerische Hingabe fühlt, die ihn im entscheidenden Moment allerdings nicht mehr erkennt. Eine wunderbar Szene, die den Lebemann empört nach draußen stürmen lässt. Schwerer werden die Gemüter, als er auf die mondäne Gabriele (Beatrix Doderer) trifft. Spitze Kommentare sind die Folge, die Anatol unangenehm berühren. Spätestens jetzt höre ich es auch, dieses Schnarchen einmal quer über den Gang in Reihe 2. Der etwas beleibte Mann ganz Außen hält ein Nickerchen und ich bin froh, nicht unmittelbar vor ihm zu sitzen.
In der Pause bestätigen sich meine Vermutungen. Der Großteil des Publikums leidet ob der „Tiefsinnigkeit“ der Dialoge. Das Depressive ist auf Dauer tatsächlich anstrengend, wenn bisweilen auch amüsant. Das Bühnenbild hingegen ist mittlerweile bereits überzogen von den Accessoires der erschienen Damen. Der Seelenmüll Anatols, den er nicht loslassen kann? Eine Seelentopographie, die nichts Gutes verheißen lässt. Ähnliches suggerieren die ernüchternden Lichtverhältnisse; nur zwischendurch wird es heller. Wunderbar übrigens die Lösung der zeitlichen Verhältnisse der Erinnerungen, die plötzlich aus den aufbewahrten Locken, Briefen und Blumen hervortreten, und die Möglichkeit aus Max‘ Wohnung einen verschneiten Abend in St. Petersburg zu evozieren oder einen letzten Einkaufsspaziergang vor Weihnachten.
Und dann erscheint Annie (Nikola Rudle) zum Souper, eine Schauspielerin. Anatol möchte die gemeinsame Liaison abbrechen, da man sich bereits beim Schwur zur ewigen Liebe versprach, einander niemals untreu zu werden. Lieber vorher das Ganze beenden, da waren sie sich einig. Genau das möchte ihr Anatol jetzt auch schonend beibringen, nichtsahnend, dass Annie die gleichen Intentionen hegt. Während sie mit unglaublichem Appetit und Trinkvermögen das letzte Mal herzhaft bei ihm soupiert, schließlich ist ihr Neuer ein brotloser Schauspielkollege, der ihr so ein Gelage keinesfalls bieten kann, kündigt sie ihm das Verhältnis. Die Situation eskaliert: Annie antwortet fröhlich und sichtlich amüsiert auf Anatols Kreuzverhör, Anatol selbst hüpft langsam im Kreis und das Publikum brüllt beinahe ob des komödiantischen Potentials der Szene (tatsächlich ist ein grunzendes und hysterisches Lachen aus dem Publikum zu vernehmen). Jetzt sind wieder alle munter, auch der Herr von einmal über den Gang, 2 Reihe.Die Szenen im Schnitzlerschen Stück wiederholen sich, die Eifersucht Anatols und sein Ennui sind ständig greifbar; es folgen Episoden der Leidenschaft und Depression. Melancholisch erklingt das Klavier und traurig die daraus ertönenden Melodien.
Trotz der Schwere so manches Anatol’schen Gedankengangs verlassen am Ende der Vorstellung vergnügte Gesichter den Saal. Gampes Inszenierung und das hingebungsvolle Schauspiel der Mitwirkenden konnten die Melancholie etwas lüften und den feinen Humor von Schnitzler entsprechend akzentuieren.
Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger // Landestheater Salzburg