Corpus Delicti

Corpus Delicti – Schauspielhaus Salzburg

Individualisten unerwünscht: „Corpus Delicti“

Tabea Baumann inszenierte Juli Zehs Dystopie am Schauspielhaus Salzburg optisch klar und philosophisch vollgepackt.

Es ist die Frage aller Fragen: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Im Fall von „Corpus Delicti“ am Schauspielhaus Salzburg fällt die Antwort leicht, das Ei – oder besser gesagt: der ergonomisch geformte Eiersessel mitten auf der Bühne. Die Henne sucht man selbstverständlich vergebens. Stattdessen vergräbt sich Protagonistin Mia Holl (Magdalena Lermer) nach dem Selbstmord des Bruders im mint-weißen Mädchentraum. Tabea Baumann inszenierte das dystopische Stück Gesundheitsdiktatur am Schauspielhaus Salzburg (Dramaturgie und Regiemitarbeit: Jérôme Junod) und begibt sich damit in literarischer Tradition auf die ewige Suche nach Moral und Gerechtigkeit.

In aller Plot-Kürze

Ein Verbrechen und ein Mann, der dafür verurteilt wird. Mia Holl, einst eine vorbildliche Bürgerin, wird vom System erschüttert, das ihren Bruder des Mordes bezichtigte und in den Selbstmord trieb. Entschlossen, seine Unschuld zu beweisen, tritt sie gegen ein System an, das sich METHODE nennt und Gesundheit über Freiheit stellt. Ein Kampf um Gerechtigkeit und persönliche Überzeugungen, der Mia an die Grenzen des Erträglichen treibt.

Bürger:innen-Pflicht

„Corpus Delicti“ ist ein düsterer Blick in die Zukunft, in dem es aufzeigt, wie sich Demokratie still und heimlich in eine Diktatur verwandelt. Die hat sich ironischerweise den hehren Zielen von gesundem Geist und Körper verschrieben, aber ein Überwachungsstaat ist ein Überwachungsstaat ist ein Überwachungsstaat. Der pfeift auf Individualität, da nur ein entmündigter Bürger ein guter Bürger ist. Das alles, so dystopisch es sich anlässt, macht Sinn. Schließlich stammt das Stück aus der Feder von Juli Zeh; eine ehemalige Richterin, die inzwischen nur noch ehrenamtlich Recht spricht und hauptberuflich Bücher und Stücke verfasst, in denen Moral und Gerechtigkeit die zentralen Motive darstellen.

Kitsch in der Dystopie

Für Salzburg verpackte Tabea Baumann die philosophischen Abhandlungen und verkopften Dialoge in ein Bühnenbild, das mit der Farbe Weiß als Hauptmotiv klar Position bezieht (Ausstattung und Video: Ragna Heiny). Weiß ist nämlich nicht nur der Lack des gemütlichen Egg Chairs, sondern auch Mias sportives Outfit und das alternativ anmutende Flatterkostüm der „idealen Geliebten“. Ja, genau so heißt die Figur wirklich, die Christiane Warnecke selbstbewusst und markant darstellt. Moritz „schickte“ sie nach dem Tod seiner Schwester, um Mia auf den richtigen Weg zu helfen. Tatsächlich sorgt die Figur aber für den ultimativen RomCom-Faktor. Das fühlt sich irgendwie falsch an. Hey, „Corpus Delicti“ war doch eben noch eine Dystopie und jetzt rückt es plötzlich in die Nähe von „Ghost – Nachricht von Sam“ oder „City of Angels“. Passender der Soundtrack, ein Union-Song aus dem Jahr 1931, „Which Side Are You On?“.

Dazwischen immer wieder die nach unten fließenden Zahlenreihen und Buchstaben an den drehbaren Wänden von Mias Reich. Zuerst ist es ihr steril-perfektes Heim (weiße Wände), dann eine Gefängniszelle (braune Wände). Dazwischen werden die einzelnen Teile mit flackernden Videosequenzen bespielt (Licht: Marcel Busá). Ein futuristisches Element für ein Stück, das 2057 angelegt ist, und an „Matrix“ erinnert. Die flackernden Szenen dienen als Kulisse für die Rückblenden an Moritz (lebensfroh und draufgängerisch: Christiane Warnecke) – wie ein Glitch in eben dieser Matrix ist er plötzlich wieder da und wird zur lebendigen Retrospektive. Seine Schwester erklärt an späterer Stelle: „man muss eine Balance zwischen Verstand und Gefühl finden: Man muss flackern. Subjektiv, objektiv. Subjektiv, objektiv. Anpassung, Widerstand. An, aus. Der freie Mensch gleicht einer defekten Lampe.“

Schmaler Grad

Bis auf Magdalena Lermer sind alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit Doppelrollen besetzt. Bei Theo Helm fällt der Unterschied besonders auf, da er mit Heinrich Kramer und Lutz Rosentreter zwei absolute Gegensätze verkörpert: Verstand und Gefühl. Helm passt sich dem rationalen Kramer genauso flexibel in Gesten und Mimik an wie dem emotionalen und empathischen Rosentreter, der mittels Mia den (gedrosselten) Aufstand übt. Magdalena Lermers Figur bewegt sich filigran auf der Linie zwischen Depression und Rebellion. Wo sie zuerst nur als Ventil für Rosentreter fungiert, brennt sie alsbald mit jeder Faser ihres Körpers für die Mission. Angefeuert wird sie dabei von Christiane Warneckes geisterhafter Figur.

Hand aufs Herz: Natürlich ist klar, wie „Corpus Delicti“ enden soll. Moralisch besteht daran nie ein Zweifel. Die Argumente der Autorin sind so hochstilisiert, dass sich im Publikum mit Sicherheit keine Anhänger für METHODE finden lassen. Wo aber bei Orwell Betroffenheit regiert und bei Aldous Huxley Staunen, ist es bei Juli Zehs „Corpus Delicti“ nur ein abgebrühtes: schon klar. Die Nachricht kam längst an, hätte aber von der Autorin etwas weniger philosophisch verpackt werden dürfen. Zum Nachdenken motiviert das Stück trotzdem, denn auf einen Staat wie METHODE darf gerne verzichtet werden – in der einen wie in jeder anderen Form.

 

Fotonachweis: Jan Friese

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