Der Heilige Gral des dörflichen Ärztezentrums

Eigentlich wollte ich nur doch nur ein Rezept. Nachdem meine Ärztin aber wieder einmal auf Urlaub weilt (meine Ärztin weilt ständig auf Urlaub – oder ich koordiniere meine Aufwartungen bei ihr einfach nur super schlecht), also zur Vertretung. Da treffe ich auf eine aufgelöste andere Ärztin. Die ruft irgendetwas davon, dass sie einen Notfall haben, der Rettungshubschrauber schon unterwegs sei und ich doch bitte im Wartezimmer Platz nehmen solle. „Aber ich wollte doch nur ein Rezept“, wage ich zu piepsen, zaghaft meine grüne e-Card schwenkend. „Notfall – Wartezimmer“, bringt sie gerade noch heraus, ehe sie weiter aufgescheucht durch die Gegend läuft. Ich bin etwas überrumpelt und suche das Wartezimmer auf. Das ist eng, heiß und stickig (warum werden Ärzte-Wartezimmer so gut wie nie gelüftet?). Die Frau links von mir hustet verdächtig. Das Mädchen rechts tippt stoisch auf ihrem Handy herum, der junge Mann daneben starrt ins Leere und die beiden rothaarigen identischen Jugendlichen, die alles und jeden beobachten und offenbar eineiig sind, erinnern mich an die Weasley-Zwillinge. Dann hustet die Frau neben mir wieder. Gut, ich bin auch erkältet, aber meine Turbo-Variante wird bald wieder vorbei sein und das enge, heiße Wartezimmer ist mir nicht länger geheuer. „Ich gehe,“ beschließe ich und drücke mich unauffällig zurück in den unbekannten Gang der Vertretung. „Wir haben einen Notfall, nehmen Sie im Wartezimmer Platz“, ruft die aufgescheuchte Ärzte gerade der nächsten völlig überrumpelten potentiellen Patientin zu, der ich mitfühlend konspirativ die Tür aufhalte, ehe ich das Weite suche. Aber schnell. Mein Rezept bekomme ich schließlich morgen auch noch ausgestellt …

Neuer Tag, neues Glück. Diesmal ist kein Rettungshubschrauber im Anflug, das erscheint mir sehr förderlich für mein Unterfangen. Gut gelaunt wage ich deshalb den 2. Versuch und statte der Ersatzärztin einen erneuten Besuch ab; immer noch auf der Suche nach meinem Rezept. Die Assistentin mit der e-Card versorgt, druckt auch sogleich mein Rezept aus. Wunderbar, es funktioniert doch, oder? Oder??? Assistentin: „Sie brauchen dafür die Unterschrift von der Frau Doktor.“ Das verstehe ich natürlich, man könnte es ihr kurz in den Behandlungsraum reichen?! Ich rechne höchstens mit ein paar Minütchen. Die Assistentin ist da anderer Meinung: „nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz“. Nein. Nicht schon wieder. Jetzt werde ich bockig, nur zu gut ist mir der Raum von gestern noch in Erinnerung. „Ich warte lieber hier“, antworte ich. Aus unerfindlichen Gründen ist sie da anderer Meinung. Ich müsse ins Wartezimmer. Die Betonung liegt auf „müsse“. Wie ärgerlich. Also zurück in die traurige Entschuldigung eines Wartezimmers, das eher einem zu engen Kinderzimmer gleicht. Wieder viel zu heiß und viel zu voll, auch wenn diesmal immerhin ein Fenster offen steht. Bescheiden ignoriere ich den einzig freien Stuhl im Raum und lehne mich an das letzte bisschen freie Wand hinter der Tür. Ich gehe davon aus, dass der Vater mit der Teenager-Tochter, der die Praxis nach mir betreten hat, mehr Verwendung für den freien Stuhl hätte. Wie falsch doch erste Eindrücke sein können; die gerade noch still wirkende Teenager-Tochter entpuppt sich gleich darauf nämlich als hochexplosiv. Als sich der freundlich lächelnde Erziehungsbeauftragte für die Wartezeit verabschieden möchte, platzt sie. Sprichwörtlich. Aus unerfindlichen bricht sie vor Publikum (dem Wartezimmer) in Tränen aus und stürmt wutentbrannt aus dem Raum. – Ganz großes Kino, jetzt wird es aufregend, wo ist mein Popcorn? – Das Mädchen knallt die Tür zu, der Vater läuft hinterher. Auf dem Gang streiten sie lautstark. Warum dürfen die dort sein und ich nicht? Als der dritte Patient infolge in die Praxis gerufen wird und ich immer noch keine Unterschrift habe, wird es mir zu bunt. Ich fasse den Entschluss, morgen wieder zu kommen und nicht wegen ein paar Buchstaben in einer Abstellkammer voller Viren mein Dasein zu fristen (auch wenn ich in diesem Moment die Einzige bin, die den Raum mit wirklich grässlichem Husten erfüllt, danke liebe Erkältung für diesen hübschen Abgang). Gerade als ich das der Sprechstundenhilfe auch mitteilen möchte, wird mein Rezept doch noch vollendet. Glücklich verlasse ich die Ordination und komme mir ein bisschen wie Parzival auf der Suche nach dem Heiligen Gral vor. Dem unglücklichen Hormonhaufen vor der Tür, deren geplagter Vater gerade loszog, um ihr mit Hustenmedikamenten die Wartezeit zu vertreiben, habe ich trotzdem keine Fragen gestellt.

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