Sitzt, wackelt und hat Luft.
Altwiener Volkstheater-Charme am Schauspielhaus Salzburg: Robert Pienz inszenierte Nestroys TALISMAN als leichtfüßige und eloquente Posse, mit viel Musik, Schmäh und Sozialkritik. Läuft!
Die Menschheit ist ein Phänomen. Sie wird selten aus Erfahrung klug, sondern rottet sich lieber auf einen Haufen zusammen und haut immer schön feste drauf, auf die, die anders sind. Eigentlich erstaunlich, handelt es sich dabei doch schon um einen ziemlich alten und zerbeulten Hut. Den zogen sich nicht nur bereits unsere Vorfahren in der Antike über, sondern auch später wollte sich niemand so recht davon trennen. 1840 feierte Johann Nestroys Posse in drei Akten über genau so ein Phänomen Uraufführung, „Der Talisman“. Fast 200 Jahre später könnte der Stoff – man mag es kaum denken – nicht aktueller sein. Der Hut sitzt, wackelt und hat Luft und die Vorurteile Hochkonjunktur.
In aller Plot-Kürze
Titus Feuerfuchs stößt wegen seiner knallroten Haare überall auf Ablehnung. Nur die ebenfalls rothaarige Gänsehirtin Salome Pockerl scheint ihm zugetan, was den jungen Mann kaum kümmert. Als er zufällig einem Friseur das Leben rettet, schenkt ihm der zum Dank eine schwarze Perücke – ein Glücksfall. Endlich wird Titus nicht mehr auf sein rotes Haar reduziert, sondern für die schwarze Lockenpracht bewundert. So ausstaffiert, erklettert er die soziale Leiter im Nu. Vom Babiergesellen zum Gärtner, vom Gärtner zum Jäger, vom Jäger zum Sekretär bezirzt er die Damenwelt ohne Unterlass. Als ihm der erstaunliche Erfolg zu Kopf steigt und die Perücke abhanden kommt, scheint guter Rat teuer und der Fall tief.
Auf die Barrikaden
Nestroys TALISMAN-Posse hat einen klar umrissenen Themenreigen: Klassenschranken, Sehnsüchte, Neid und Ausgrenzung werden eloquent und findig an den Pranger gestellt. Weil die Problematiken auch heute noch ziemlich aktuell sind, wäre DER TALISMAN auch eine aufgelegte Blaupause, die nach Gegenwart ruft. Ein paar Anzüge hier, ein paar Narzissten dort. Davon nimmt die Produktion am Schauspielhaus zum Glück meilenweiten Abstand (Regie: Robert Pienz, Ausstattung: Ragna Heiny, Musik: Gernot Haslauer, Licht: Marcel Busá, Dramaturgie: Theresa Taudes). Stattdessen setzt Robert Pienz bei seinem Regiekonzept auf ein vergnügliches, scharfzüngiges und gleichzeitig modernes Crossover aus frechem Originalton, schrägem Sound, humoresker Hyperbolik und zahlreichen aufgefrischten Seitenhieben ins Hier und Jetzt – die auch vor dem Ibiza-Gate keinen Halt machen, sehr zum Amüsement des Publikums.
„s is’s Dümmste, wann d‘ Leut‘ nach die Haar‘ urteil’n woll’n“
Wie formuliert man Kritik am effektivisten? Selbstverständlich durch die Blume und am Theater funktioniert das mit Musik und Humor. Das musikalische Arrangement ist eine spannende Kombination aus Wienerlied, Nestroy und den unterschiedlichsten Einflüssen, die unglaublich viel Spaß machen. Theo Helm und Bina Blumencron bestreiten als Titus Feuerfuchs und Salome Pockerl das feuerrote Leading Team. Er mit Banjo und bisweilen folkigen Anleihen, sie mit Mellophon und kraftvoller „all that Jazz“-Power in der Stimme. Gemeinsam oszillieren sie zu einem starken Duo, dass bei Bedarf von Ute Hamm (Flora Baumscheer, die Gärtnerin) komplettiert wird – das Ergebnis ist stimmstark, facettenreich und würde sich auch als Album hervorragend anlassen.
Das musikalische Leading Team kann aber noch mehr: Als erstklassiges Schauspiel-Duo erobern sie die Bühne. Frech, eloquent und immer mit einem perfekt dosierten Maß an Schalk im Nacken, gibt Theo Helm seinen Titus. Der richtet sein Fähnlein genau wie die anderen stets nach dem Wind. Gleichzeitig ist der „vazierende Barbiergeselle“ ein Paradebeispiel für die hohe Sprachkunst Nestroys, die der Sozialposse genau den richtigen Pfiff verleiht. Dabei setzt Robert Pienz auf Lokalkolorit und kunstvoll arrangierte Altwiener Nestroy-Lingo. Soll heißen, die Schauspieler parlieren, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – Hauptsache Richtung Wien und literarisch.
Frauenpower
Salome ist die Einzige im Stück, die nicht am Jahrmarkt der Eitelkeiten partizipiert und sich selbst mit der Ellbogen-Technik auf das Podest hebt. Stattdessen verleiht ihr Bina Blumencron eine rührende Naivität, die ans Herz geht. Vor allem, wenn Salome resigniert, aber wild entschlossen ihr trauriges Schicksal umarmt. Gleichzeitig erzählt die junge Gänsehüterin frisch und frei, was sie genau in diesem Moment bewegt und wird zur Personifikation der natürlichen, unverdorbenen Menschlichkeit. Damit zieht Salome zwar per se meistens den Kürzeren, aber am Ende schlägt dann doch noch ihre Stunde – Johann Nepomuk Eduard Ambrosius seis getrommelt und gepfiffen.
Weniger Feingefühl präsentieren die drei Witwen: Ute Hamm ist eine gelungene Gärtnerin, die dank Kostüm und Maske wahlweise an Bette Midlers „Hocus Pocus“-Hexe Winifred Sanderson oder Frida Kahlo erinnert. Zugleich werden die drei zu beispielhaften Allegorien von Neid und Missgunst. Dazu zählt auch Kammerfrau Constantia (Kristina Kahlert). Den Habitus der arroganten Bediensteten beherrscht Kristina Kahlert ohne Worte. Hochnäsig rümpft sie die Nase und spaziert nonchalant über die Bühne. Da bedarf es keiner Reden, dass die dann trotzdem noch kommen, ist ein humoriger Bonus – vor allem wenn Hysterie dominiert. Susanne Wendes Frau von Cypressenburg zeigt, dass auch die höher gestellte Dame im Angesicht der richtigen Summe bei der verhassten Haarfarbe gerne ein Auge oder zwei zudrückt. Eilfertig lässt sie den eben vor die Tür gesetzten Titus wieder einsammeln.
Alles Dialekt!
Bei Robert Pienz‘ Inszenierung liegt der Fokus klar auf österreichischem Sprachkolorit und das beherrscht Marcus Marotte gelungen. Seinen Spund gibt er so souverän und unaufdringlich mit erstaunlich authentischer Sprachrhythmik, dass gar nicht auffällt, dass hier eigentlich kein Muttersprachler parliert. Wie ein nostalgischer österreichischer Onkel spricht er immer wieder ohne Akzent vom „Bub“ und zupft Titus am Haar herum, dass dem ganz Angst und Bange um den korrekten Sitz seiner Perücke wird. Da ist sie auch gleichzeitig wieder, Nestroys omnipräsente Sozialkritik und der plötzliche Umschwung von absolutem Hass zu totaler Verehrung sobald die Haarfarbe stimmt.
Die Parodie der Menschlichkeit könnte kaum extremer ausfallen und trotzdem schafft es Simon Jaritz in seiner Rolle als Gärtnergehilfe Plutzerkern, noch einmal ein Scherflein nachzulegen. In breitester Wiener Varietät schmeichelt er Titus, ehe er ihn unvermutet anbrüllt und wüst niederschreit, dass nicht nur Titus die Ohren schlackern – sei es vor Schreck, sei es vor Angst vor so viel menschlichem Abgrund. Sehr viel harmloser, aber dafür umso gefährlicher geht es der durchtriebene Monsieur Marquis an. Olaf Salzer lässt den Friseur schelmisch, charmant Hof halten. Die Perücke steht immer ein wenig ab, was ihm einen heiteren Eindruck verleiht. Gleichzeitig weiß Monsieur Marquis genau, was er will. Als ihm Titus dabei in die Quere kommt, eignet er sich hinterrücks dessen Perücke an.
Bretter, die die Welt bedeuten
Als sehr funktionell erweist sich auch das Bühnenbild. Das Mühlrad von KRABAT wird zur Altwiener Volksschaubühne umfunktioniert. Dort oben finden hinter dem Vorhang Hanswurstiaden statt, die in ihrer absoluten Überdrehtheit nicht nur amüsant sind, sondern auch eine weitere Brücke zu Nestroy schlagen. Obendrein verleihen die Schattentheater-Szenen dem TALISMAN am Schauspielhaus Salzburg eine ganz eigene, spannende und sehr individuelle Note. Die wird durch Kostüme mit zeitgenössischen Anleihen komplettiert. Das Ergebnis ist eine kurzweilige Produktion, die – wie einst die prominente Vorlage – gekonnt und eloquent gesellschaftliche Mechanismen entlarvt und humorig in Frage stellt.
Fotonachweis: Jan Friese
by