DIE HIRAETH-CHALLENGE.
Wir tragen die Erinnerungen unserer Vorfahren in uns – die Botschaft von Nadja Puttners/Unicorn Arts HIRAETH scheint klar. Die Umsetzung ist es auch; ansprechend und eindrücklich betreibt die Inszenierung ein kleines Stück Selbsterkenntnis.
„Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück…“, tönt die Melodie der Comedian Harmonists vom Band. „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück…“, greift Edoardo Blandamura auf dem Kontrabass die Klangfolge auf und liefert zugleich das Leitmotiv von Nadja Puttners performativer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: HIRAETH. Was so hebräisch anmutet, ist walisisch und steht für… ja, was eigentlich?! Eine treffende Beschreibung liefert Val Bethell „Hiraeth – the link with the long-forgotten past, the language of the soul, the call from the inner self. Half forgotten – fraction remembered.“ Hiraeth ist also etwas, das ziemlich tief in uns wohnt. Es symbolisiert die Sehnsucht, den Schmerz und die unterschwellige Erinnerung.
Choreografin Nadja Puttner begreift Hiraeth als Erbe. Wir tragen nicht nur die Gene unserer Vorfahren in uns, sondern auch ihre Geschichte. Eine Theorie, die so neu nicht ist, aber kaum künstlerisch thematisiert wird. Als Ausgangspunkt für HIRAETH dient ein Schlüsselerlebnis der Choreografin und Leiterin von Unicorn Art, die erkannte, mit den unbekannten Erlebnissen ihrer Großeltern verknüpft zu sein. Sie widmete sich daraufhin intensiv dem Phänomen und entwickelte HIRAETH – mit dem Schicksal zweier Mädchen als performativer Plot-Basis.
In aller Plot-Kürze
Mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs träumt ein fünfjähriges Mädchen von Fliegeralarm und Bombenangriffen, die es nie erlebt hat. Jahre später erzählen die Großeltern von ihrer Gefangenschaft als Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur. Und sie erinnert sich. Auch an das Gefühl der Hilflosigkeit und des Eingesperrtseins, das sie ihr ganzes Leben lang verfolgen wird. Bereits als Siebenjährige beginnt ein anderes Mädchen, sich bewusst vom Leben zurückzuziehen. Eingeschüchtert vom Schweigen, das in ihrer Familie omnipräsent ist, versteckt sie sich selbst hinter einer Mauer der Stille. Auch als Erwachsene wird sie nicht wagen, das auszusprechen, was sie wirklich denkt und fühlt.
Let’s talk about Hiraeth
Die freie Tanztheatergruppe Unicorn Art verbindet mit HIRAETH Sparten (Regie: Fritz von Friedl). Sie kreiert ein buntes Potpourri aus Eindrücken, die sich im Verlauf der Performance zu einem stringenten Quilt verweben. Der birgt das ganze psychologische, psychische und zeit-politische Potential der unterschiedlichen Stränge. In den Sprechtheater-Abschnitten reichen sich Komik und Tragik die Hand. Humorig wird es durch den Wiedererkennungswert der trocken dargebotenen großelterlichen ‚Weisheiten‘. Mit präzisem Blick verbindet HIRAETH Alltagssprache und Eigenheiten einer Generation vor der eigenen Zeit. Spannend ist, dass die Kommentare hohen Wiedererkennungswert besitzen. Tragisch indes muten die verletzenden Worte an, die selbstbewusst und mit Lokalkolorit en masse dargeboten werden. Mara Kluhs und Nadja Puttner zelebrieren das Spiel zwischen Kindern und Großeltern mit Verve und bieten gleichzeitig den Schlüssel zu einem (HIRAETH-)Verständnis.
Neue Formen
Das Schauspiel als Schlüssel zur Erkenntnis, das den performativen Rahmen ausweitet. Plötzlich entsteht eine große Interpretationsfläche, die die kleinen grauen Zellen in Ekstase versetzt. Die Performerinnen & Choreografinnen Mara Kluhs und Nadja Puttner lassen ihre Körper sprechen. Eingesperrtsein und Sprachlosigkeit erhalten neue physische Formen und werden mit unglaublicher Leichtigkeit und großer Beharrlichkeit zelebriert. Sehr gelungen die abgehakten Bewegungen im Rhythmus von Edoardo Blandamuras Kontrabass-Spiel. Die Melodie wird zum Sinnbild für die Generationen davor, zu deren Erbe die beiden Frauen wie Marionetten tanzen – „sind wir nicht alle ein bisschen determiniert“, scheint die Antwort auf die unausgesprochene Frage.
Mephisto tanzt
Irgendwann stürmen ‚Guerilla-Tänzerinnen‘ die Bühne. Vielleicht der Nachwuchs, die Generationen danach, die bereits in den genetischen Startlöchern scharrt. Die seltsam-entstellten Masken – ein bisschen Anonymus, ein bisschen Sexpuppe – deuten aber eher auf personifizierte Traumata hin. Plötzlich sind sie real, die Erinnerungen, von denen vorher nur in Gestus und Sprache die Rede war. Sehr lebendig feiern sie zur Musik von Falcos DANCE MEPHISTO. Apropos. Das musikalische Arrangement ist eine Erinnerungsreise und fügt sich homogen ins generationsübergreifende Konzept.
Das Glück ist ein Vogerl
„Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“? Mit Sicherheit, aber dafür hilft es, sich auf das Vergangene und Verdrängte einzulassen. Das freie Tanztheaterensemble Unicorn Art aus Wien, das auch Schauspiel kann, macht es vor, und demonstriert, wie damit vielleicht auch (gesellschaftliche) Ressentiments der Gegenwart reduziert werden können. Eine schöne Idee, die Unicorn Art in der Regie von Fritz von Friedl auf ansprechende und massenkonforme Weise mit HIRAETH darbietet, wenngleich sie dann doch etwas utopisch anmutet. Aber der stete Tropfen hüllt irgendwann vielleicht dann doch noch den Stein. Und bis dahin summt das Publikum Post-Performance „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück…“.
Fotonachweis: Ingrid Chladek
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