Surreal, unkonventionell und herrlich! – Großartige Theaterkunst, die wunderbar unterhält: Das Aktionstheater Ensemble mit IMMERSION. WIR VERSCHWINDEN.
Diese Woche erhielt das Aktionstheater Ensemble mit KEIN STÜCK ÜBER SYRIEN den Preis für die „Beste Off-Produktion“. Diese Woche wählte das Gros der US-Population Donald Trump zum neuen Präsidenten. Diese Woche verstarb die Musik-Koryphäe Leonard Cohen. Unzusammenhängende Zufälligkeiten? Ja. Gleichzeitig ist allen diesen Ereignissen eines gemein: Sie sind Teil des großen Stoff-Konglomerats der aktuellen Aktionstheater Ensemble Produktion IMMERSION. WIR VERSCHWINDEN. Und das premierte ebenfalls diese Woche im Zuge des Open Mind Festivals 2016 an der ARGEkultur. Wer jetzt denkt, dass die Uraufführung am ersten Spieltag stattfand, der*die irrt. Denn nur zwei Tage später folgt die zweite Premiere des gleichen Stücks.
Es ist diese Lebendigkeit des Sujets und die sich ständig neu verästelnde Ästhetik eines theatralen Organismus, die die Produktionen des Aktionstheater Ensembles zu ganz eigenen Erlebnissen werden lassen. IMMERSION. WIR VERSCHWINDEN. stellt dabei keine Ausnahme dar und beschreitet den gleichen Weg. Das kommt an (Regie: Martin Gruber, Text: aktionstheater ensemble, Martin Gruber, Claudia Tondl, Musik: Sonja Romei, Kristian Musser, Bühne: Sebastian Spielvogel).
Auf der Bühne stehen drei Schauspieler*innen (Michaela Bilgeri, Martin Hemmer, Andreas Jähnert) und zwei Musiker*innen (Sonja Romei, Kristian Musser). Die einen beginnen zu erzählen. Selbstironisch berichtet sie (M. Bilgeri) mit gekränktem Stolz von den Erfolgen einer Werbespot-Protagonistin. Anfangs dezent und spöttisch, später immer emotionaler. Auf die Emotionalität folgen die großen Gesten. Gleichzeitig wird Michaela nicht müde, auf ihre eigene Auszeichnung als Gewinnerin des Vorarlberger Kulturpreises zu verweisen. Mit den Fingern schnippend erzwingt sie die leicht ablenkbare Aufmerksamkeit ihrer männlichen Kollegen. Die ergehen sich derweil nämlich eigentlich viel lieber in ihren eigenen „Heldentaten“. Andreas (A. Jähnert) berichtet davon, wie er als Poesie verfassender Ehrengast bei der Hochzeit von Freunden in einem Tiroler Sterne-Hotel untergebracht war. Das erhabene Gefühl, das er empfand, als er gemeinsam mit dem Brautpaar alle anderen Gäste aus den nichtssagenden, umliegenden Unterkünften einsammelte, beschreibt er ausführlich und genießt die kleine Retrospektive sichtlich. Kurz darauf allerdings verblasst der anfängliche Ruhm und macht dem gekränkten Dichter-Stolz Platz. Nichts da mit dem Petrarcaschen Lorbeerkranz für den brillantesten Lyrik-Vortrag während der Feierlichkeiten auf der Finanzmogulen-Sause. Stattdessen listet Andreas im immer zorniger werdenden Tonfall alle damals anwesenden Prominenten auf, die er dem Publikum mit großartiger Leichtigkeit entgegenwirft. Michaela kennt keinen. Halt, nein, Veronica Ferres, die ist ihr ein Begriff. Und Angela Merkel auch. Die wurden aber auch in der „Bunten“ erwähnt, wie Andreas säuerlich hinzufügt. Martin (M. Hemmer) indes versucht mit seinen Erlebnissen auf einem nepalesischen Berggipfel zu glänzen. Vom anfänglichen Star der Filmproduktion reduziert sich seine Rolle allerdings rasch zu der eines Statisten und dann noch eines australischen! Dafür darf er auf die Bühne pinkeln. Die Frage, ob er das jetzt wirklich gemacht hat, bleibt bis zum Ende offen. (Und dann entscheiden wir, ja, wir trauen das dem Aktionstheater Ensemble durchaus zu).
IMMERSION. WIR VERSCHWINDEN. ist Programm. Die Figuren lassen sich nicht fassen. Sie tragen die Namen ihrer Schauspieler*innen, aber sind es wirklich die Schauspieler*innen, die in diesem Moment ihre eigenen Geschichten zum besten geben? Oder sind es Schauspieler*innen in den Rollen von Schauspieler*innen, die einen einstudierten Text zu neuem Leben erwecken? Mit den Mitteln der ironischen Überspitzung, der humoristischen Übersteigerung und der Komödie amüsiert sich das Medium ausgiebig über sich selbst. Das Publikum unterhält sich dabei vorzüglich. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind fließend und bewusst inkohärent. Nebenbei wird die Tradition des Verschwindens konsequent durchexerziert: Der Stoff der Produktion ist eine Montage aus Interviews mit den Darsteller*innen, Erzählungen anderer Darsteller*innen und fiktiven Texten. Das Resultat ist ein herrlich divergentes Potpourri von Realität und Fiktion. Es fällt schwer, den Überblick zu wahren und die eigene Imagination schlägt freudig Purzelbäume.
Der gesamte theatralen Aufbau reflektiert das Nicht-wahrgenommen-Werden. Selbst die ausgefeilte Choreographie ist von der Topik durchdrungen. Nie stehen die Darsteller*innen vollkommen still. Immerwährend fallen sie sich gegenseitig in ihre Geschichten und erreichen nur dann den Beinahe-gestischen-Stillstand, wenn sie in den eigenen Erinnerungen schwelgen. Die Zeit dazwischen entzieht sich jeglicher Form der Stagnation. M. Bilgeri hüpft so obsessiv über die silikonlastigen Auflagen auf der Bühne wie andere über die immer gleichen Steine eines Kopfsteinpflasters. Verschwinden, verschwinden, immerzu verschwinden, gerne auch im Bühnenbild. A. Jähnert meidet gerade diese Elemente, wenn er mit dem imaginären Rasenmäher manisch lächelnd die Ergebnisse seines Lachkurses präsentiert. Und M. Hemmer windet sich lasziv zu seinem Song. Apropos! Selbst S. Romei mit ihrer Ukulele steht nie still. Wunderbar die musikalischen, sphärischen Einlagen – eigentlich wäre so ein Aktionstheater Ensemble-Album eine wunderbare Idee; die schrägen Töne, die an Kurt Weill erinnern, buhlen geradezu um Aufmerksamkeit und verfügen über beachtliches Ohrwurm-Potential. Als absoluter Fels in der Brandung etabliert sich K. Musser; der Musiker steigert den Stillstand ins Exorbitante und löst sich geradezu im viel beschworenen Nichts auf.
Das Aktionstheater Ensemble unter der Leitung von Martin Gruber begreift das Theater als lebendigen und sich ständig neu verästelnder Organismus. Deshalb wundert auch die plötzliche Anstimmung von Leonard Cohens „Hallelujah“ nicht. Ganz im Gegenteil. Die künstlerische Verbeugung vor dem kürzlich verstorbenen musikalischen Großmeister berührt. Und sorgt dafür, dass IMMERSION. WIR VERSCHWINDEN auch am zweiten Spieltag mit einer Premiere überrascht. Danach wird ein wirklich vorerst letztes Mal verschwunden; wenn sich das Black langsam über die Bühne senkt, verzerren sich die Stimmen und Töne zu einem großen Ganzen. Und das löst sich im allgemeinen Nichts auf. Bravo! Wirklich großartiges Theater am Puls seiner Zeit.
Fotonachweis: Michael Grössinger // Aktionstheater Ensemble