Der Michael Kohlhaas aus dem Innviertel
Peter Raffalt rollt mit JÄGERSTÄTTER Felix Mitterers Stück über den Kriegsdienstverweigerer neu auf: Ohne zu moralisieren, zeichnet Raffalt das Bild eines ‚Helden‘ mit all seinen (ver)zweifelnden Facetten. Großartig!
Franz Jägerstätter polarisiert: Held oder Feigling? Als Wehrdienstverweigerer aus Glaubensgründen landete er vor dem Kriegsgericht und wurde mit dem Tod bestraft. Die Kirche bekleckerte sich dabei nicht mit Ruhm – erst Jahre später spricht sie den Innviertler Bauern von allen Makeln frei und 2007 sogar selig. Ja, also, was nun?
Bereits in der vergangenen Spielzeit sorgte Regisseur Peter Raffalt mit BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER am Schauspielhaus Salzburg für gewaltig Eindruck. Zum Glück gab er sich jetzt neuerlich ein theatrales Stelldichein: Mit seinem temporeichen JÄGERSTÄTTER holt Peter Raffalt die Geschichte des Innviertler Kriegsdienstverweigerers ohne Idolisierung auf die Bühne und bittet zum moralischen Diskurs.
In aller Plot-Kürze
Der oberösterreichische Bauer Franz Jägerstätter ist ein gutmütiger Hallodri und dorfbekannt. Mal mehr, mal weniger religiös, schwängert er die mittellose Magd Theresia, hegt aber die besten Intentionen. Dann mischt sich seine Mutter ein und das junge Paar trennt sich einvernehmlich. Um das Kind kümmert sich der künftige Bauer trotzdem. Bald darauf heiratet er Franziska, die zumindest eine Bauerntochter ist – und erfüllt damit auch die Ansprüche seiner Mutter. Franziska bringt Jägerstätter zurück zu seiner Religion, aber drei Kinder später soll er in den Krieg einrücken. Das kann der mittlerweile stark im Katholizismus verhaftete Bauer keinesfalls mit seiner Religion vereinbaren. Eine Verweigerung führt zur anderen. Franz ist hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und Christentum – und entscheidet sich dann doch für letzteres. Sein Todesurteil.
Szenische Lichtwerdung
Die Bühne im Urzustand erinnert an ein Schaufenster, freilich, ein sehr metallenes (Bühne: Vincent Mesnaritsch, Kostüme: Elke Gattinger). Erst mit der szenischen Lichtwerdung fällt auf, dass es durch eine verschiebbare, bedruckte Wand komplettiert wird. Je nach Helligkeitseinfall reagiert die mit Durchlässigkeit und erweitert das Geschehen um zusätzliche Räumlichkeiten – ganz egal ob es sich dabei um Realität oder eine Tür zur Metaebene handelt: Das Resultat sind ganz besonders intensive Szenen.
Innere Zerrissenheit und ständige Konflikte
Eines wird rasch deutlich, JÄGERSTÄTTER setzt nicht auf die heroische Verklärung eines gefallenen Märtyrers, dem zu Lebzeiten (und lange danach) sehr viel Unrecht geschah. Stattdessen zeichnet Peter Raffalts Regiearbeit einen sehr unsicheren Bauern, der höchst menschlich mit seinem Schicksal hadert. Kodifiziertes Recht oder Moral? Die Sorgen, die schon Michael Kohlhaas plagten, erfuhr der reale Jägerstätter am eigenen Leib. Diesem moralisch-divergenten Konflikt verleiht Theo Helm als Franz Jägerstätter mit großartigem Schauspiel eine eminent menschliche Note. Die tiefe Zerrissenheit Jägerstätters und sein Starrsinn bringt der Mime mit nachhaltiger Vehemenz zum Ausdruck. Und die, die erinnert vermutlich nicht ganz ohne Grund an einen Michael Kohlhaas. An der Unfehlbarkeit von Jägerstätter kratzt auch Theresia, die Mutter seines ledigen Kindes. Während die Kirche betont, dass sich die beiden in harmonischem Einverständnis trennten, zeigt Peter Raffalt eine andere Seite. Kristina Kahlert legt ihre Theresia nach Franz‘ Abfuhr reserviert und nur vordergründig einlenkend an. Hasserfüllt und mit zornigem Blick schleudert sie später der baldigen Witwe ganz andere Worte um die Ohren – während sie sich im gleichen Atemzug für die eben gebrachten Lebensmittel bedankt. Eine Szene mit starkem Eindruck.
Als Franz‘ Frau Franziska sorgt Magdalena Oettl beim Schlussapplaus für wahre Begeisterungsstürme – höchst verdient. Sie gibt die junge, gottesfürchtige Ehefrau devot und trotzdem selbstbewusst an ihren Idealen festhaltend. Neckisch zieht Franziska ihren Zukünftigen auf, als er sichtlich verlegen um ihre Hand anhält. Rührend schreibt sie Jägerstätter während seiner Haft von den Kindern oder bittet beim Bürgermeister um Fürsprache. Nur ganz selten gerät selbst die scheinbar überlegene Christin ins Zweifeln, dann aber fängt sie sich wieder und glaubt umso stärker. Es ist ihre Religion, die sie Franz‘ Entscheidung gegen die Familie akzeptieren und tragen lässt – wenngleich nicht immer ganz freiwillig. Magdalena Oettl ist im Laufe von JÄGERSTÄTTER so eins mit ihrer Rolle, dass sie reale Tränen vergießt. Sichtlich mitgenommen nimmt sie bei den stehenden Ovationen die Begeisterung des Publikums in Empfang. Weniger mitfühlend zeigt sich hingegen Rosalia (Daniela Enzi), Jägerstätters Mutter. Daniela Enzi gibt eine wunderbar verbitterte alte Frau. Früher selbst einmal Magd und nur durch Heirat zur Bäuerin avanciert, hat Rosalia große Pläne mit ihrem ledigen Kind. Ein braver Bauer soll er werden, kein störrischer Christ. Daniela Enzi arbeitet die Kälte und Enttäuschung der aufgezerrten Frau heraus und serviert sie dem Publikum auf dem Präsentierteller. Bei dieser Kost möchte einem der Appetit vergehen, wenn da nicht auch die verletzlichen Züge der Figur wären, die immer wieder für wenige Sekunden aufleuchten. Nein, hier blind zu verurteilen fällt schwer.
Topographie des Volkes
Ganz im Sinne eines griechischen Dramas tritt das einfache Volk als Chor auf. Statt zu tanzen oder singen, repetiert es seine ‚Verse‘ simultan. Im grau-blauen Partner-Outfit wird es bereits optisch eins und verliert sich beinahe in der Kulisse. Eine gelungene Herangehensweise, schließlich werden so beide Elemente zum Signum für die dumpfe Masse, den moralischen Verfall und die Verbrechen der Nationalsozialisten. Des weiteren erhalten die Sätze gerade durch ihre Gleichzeitig eine ungeahnte Schlagkraft und prägen sich ein. „Seliger Jägerstätter“ murmelt das Volk eilfertig zum Schluss; nein, den Zurückgebliebenen ist nicht plötzlich Rückrad gewachsen, sie haben ihr Fähnlein stattdessen wieder einmal nach dem Wind gerichtet und sich problemlos den neuen Idealen angepasst.
Aus dem Volks-Chor speisen sich die restlichen Darsteller*innen. Antony Connor ist ein maliziöser, denunzierender Oberlehrer, der den Krieg zwar als heilig deklariert, aber selber nicht mitkämpft. Mit klerikal salbungsvoller, weicher Stimme mimt Marcus Marotte den Bischof von Linz, der Jägerstätter die Hilfe aus christlicher Sicht verweigert – mit kleinem Zugeständnis. Als Oberst bellt Harald Fröhlich seine Befehle raus, die Simon Jaritz als emsiger Schreiber zu korrekt übernimmt. Großspurig kommt indes Lukas Bischof als Großbauernsohn Rudi daher und im jovialen Stechschritt Franz‘ Berliner Anwalt Dr. Feldmann (Matthias Hinz).
Und dann sind da noch die drei aufeinander fixierten Halogen-Leuchten – die bei Szenenwechsel immer wieder in Tabula rasa-Manier den Bühnenrand abfahren. Ein Überbleibsel aus DORIAN GRAY? Da gab es die Leuchten schließlich zuhauf. Aber auch in JÄGERSTÄTTER sorgen sie für spannende Eindrücke. Wie übrigens auch die aus Marien-Gebeten, frommen Sprüchlein oder anderen Wortsprengseln zu bestehen scheinenden Einspielungen zwischen den Szenen, die Unheil anmutende Musikabmischung und großzügig gestreuten Blacks (Musik: Georg Brenner, Licht: Marcel Busa).
Nur nicht vergessen!
Felix Mitterer schrieb mit seinem gleichnamigen Drama unparteiisch gegen das Vergessen an. Peter Raffalt hütet sich mit JÄGERSTÄTTER ebenfalls vor Wertungen. Er zeigt eine zerrissene, unsichere Figur, die häufig an ihrem Tun hadert. Der Diskurs wird durch die temporeiche, spannende Salzburger Inszenierung neu geschürt: War Franz Jägerstätter jetzt ein Held oder nicht? Verschanzte er sich hinter seiner Religion oder handelte er moralisch motiviert? Diese und andere Fragen können nach der Vorstellung ausgiebig erörtert werden – die ein szenisch fulminanter Abgang krönt.
Fotonachweis: Jan Friese
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