Endlich, my preciousssssss: „Judas“ von Amos Oz
Unverhofft kommt oft. – Und dann als ich schon gar nicht mehr daran denke, ja, es eigentlich bereits wieder vollkommen in Vergessenheit geraten ist, trudelt sie ein, die Benachrichtigung der Bibliothek, dass mein vorgemerktes Buch eingetroffen sei und eine Woche für mich zur Abholung bereit liege. Der Zeitpunkt, ich gebe es zu, ist denkbar ungünstig. Ich bin gerade nicht in der Stadt. Am letzten Tag der Frist komme ich zurück und eile sofort los, um meinen Schatz zu bergen: „Judas“ von Amos Oz.
Winter 1959/1960: Es ist die Geschichte von Schmuel Asch, der sein Studium in Jerusalem und seine geplante Abschlussarbeit („Judas in der Perspektive der Juden“) abbricht, um die Stadt zu verlassen. Ungefähr zur gleichen Zeit verlässt ihn seine Freundin für ihren Ex-Freund und stößt Schmuel auf eine seltsam anmutende Anzeige am Aushang eines Cafés. Gesucht wird ein alleinstehender Student der Geisteswissenschaften als Gesprächspartner für einen älteren, kultivierten Mann mit Behinderung. Geheimhaltung ist oberste Priorität. Schmuel klopft an die Tür des Hauses in der Rav-Albas-Gasse 17, im Viertel Sche’arei Chesed. Dort trifft er nicht nur auf den eigentümlichen, älteren Gerschom Wald, sondern auch auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel, Tochter des verstorbenen Anführers einer zionistischen Bewegung.
Selbstverständlich bleibt Schmuel hängen und genauso selbstverständlich verliebt er sich beinahe auf der Stelle in die ältere Atalja, die ihn durch ihre Schönheit und Unnahbarkeit bezaubert. Während sich langsam eine etwas einseitige Liebesgeschichte entspinnt, werden gleichzeitig die politischen und privaten Geheimnisse des Hauses in der Rav-Albas-Gasse 17 enthüllt. In langen philosophischen, ironischen und spitzen Streitgesprächen mit Gerschom Wald erhält Oz‘ Publikum die Möglichkeit, immer tiefer in die ambivalente Geschichte eines gespaltenen Landes einzutauchen. Das heißt, natürlich nur dann, wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt die Lektüre noch nicht vorzeitig abgebrochen hat. Der Einstieg könnte sich bisweilen etwas schwieriger gestalten. Das liegt an der verworrenen Situation Schmuel Asch‘ und den unglaublich vielen Eindrücken, die auf die RezipientInnen einstürmen. Verweilen lohnt sich.
Der etwas andere Geschichtsunterricht. – Amos Oz beleuchtet mittels seiner Figuren und ausführlicher Diskurse wie nebenbei die menschlichen Tragödien vor und nach der Gründung Israels im Jahr 1948. Unaufdringlich und subtil wird Geschichtsunterricht zelebriert und durch unterschiedliche Figuren einzelne Lösungsmodelle vorgeführt und häufig wieder verabschiedet. Da ist der gescheiterte Abrabanel, der den Vorschlag des friedlichen miteinander von Juden und Arabern mit Einsamkeit und Hohn büßt. Gerschom Wald entpuppt sich als zynischer, ironischer und von Trauer verfolgter Gesprächspartner, der die Hoffnung auf eine humane Lösung und ein erez Israel längst verlor.
„Judas“ ist ein Roman, der von den Hoffnungen und der Verzweiflung Israels berichtet, von Problemen, die das Land seit seiner Gründung und bereits lange davor verfolgen. Sprachlich wunderbar umgesetzt, werden Zusammenhänge und Hintergründe in den Fokus gerückt und dem Publikum näher gebracht. Schmuel Aschs und Gerschom Walds Diskussionen sind anregend und faszinierend. Nebenbei werden interessante Theorien zu Judas aus der Sicht der Juden eingestreut, die zum Nachdenken anregen.
Am Ende bleiben die eigenen Gedanken zum Thema und sehr viel Empathie für die entwurzelte Situation der verschiedenen Völker Israels.
Oz, Amos: Judas. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin: Suhrkamp, 2015, 332 S.
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