Lass‘ es einfach raus!
Die Streicheloffensive: In Rudolf Freys Inszenierung UNGEDULD DES HERZENS am Schauspielhaus Salzburg geht das Spiel über den moralischen Mut gestenreich und wortgewandt in die nächste Runde.
Zum 75. Mal jährt sich heuer der Todestag von Stefan Zweig. Es mag Zufall sein, dass sein einziger beendeter Roman, die „Ungeduld des Herzens“, just in dieser Spielzeit einen Platz im Repertoire des Schauspielhaus Salzburgs fand. Vermutlich ist es das aber nicht. Vielmehr wird dem österreichischen Autor mit Thomas Jonigks Dramatisierung ein zeitgenössisches Denkmal gesetzt. Das hat etwas Tröstendes an sich, eine Geste des Mitleidens für den Schriftsteller, der nach antisemitischen Schikanen 1934 von Salzburg nach London floh.
Der junge k. u. k. Offizier Anton Hofmiller wird zu einem Fest auf Schloss Kekesfalva eingeladen. Um Etikette bemüht, fordert er die Tochter des Hauses zum Tanz auf. Hofmiller weiß nicht, dass Edith gelähmt ist; nun ja, zumindest bis das Mädchen auf seine Aufforderung zum Tanz hin vornüber kippt. Ungeschehen kann der junge Mann, der um seine Ehre fürchtet, den Fauxpas nicht machen, aber Mitleid, ja, Mitleid hat er anzubieten. Dieses Gefühl treibt ihn dazu, Edith seine Aufwartung zu machen. Erst einmal, dann zweimal und schließlich ist er ständig auf Schloss Kekesfalva zu Gast. Edith missversteht die auf Mitleid beruhenden Besuche des jungen Offiziers und verliebt sich in den nicht wirklich ehrenhaften Ehrenmann. Auf den eigenen Ruf bedacht, verlobt er sich schließlich sogar mit dem Mädchen. Als er sie allerdings wenige Stunden später vor seinen Kameraden im Wirtshaus verleugnet, noch ehe überhaupt irgendein Hahn die Chance zu krähen hatte, ist Edith so tief von seinem Verrat getroffen, dass sie sich das Leben nimmt. Hofmiller flüchtet einmal mehr; diesmal in den Ersten Weltkrieg.
Empathische Abgründe
R. Frey inszenierte UNGEDULD DES HERZENS als psychologisches Drama mit Hang zur Groteske, als seelisches Krisengebiet mit kurios-heiteren Erhebungen. Penibel und exzessiv arbeitete R. Frey dafür das Motiv des Mitleidens hervor und ordnet ihm alle Bereiche unter. Die Darsteller*innen sammeln sich auf der Bühne noch ehe das Licht im Saal schwindet und unterhalten sich scheinbar angeregt. Mit Beginn der Vorstellung schmettern sie fröhlich, unbeschwert Helmut Qualtingers rabenschwarzes „Krüppellied“ (Musik: Fabio Buccafusco). Dann packt auch schon jeder eine Ausgabe des Zweig’schen Romans aus und alle fangen gleichzeitig an zu deklamieren und gegenseitig die Sätze zu beenden. Rasch zeigt sich, hier wird dem Publikum nichts vorgekaut und breiartig serviert; UNGEDULD DES HERZENS fordert absolute Aufmerksamkeit, die belohnt wird.
Die Leiden des jungen H.
Die Figuren variieren und wechseln leichtfüßig zwischen den Ebenen. Matthias Hinz trägt als Anton Hofmiller den Mammutteil des Schauspiels und fluktuiert im Sekundentakt zwischen Rahmen- und Binnenhandlung. Dabei gelingt es ihm, den ambitionierten k. u. k. Offizier, der tunlichst um gesellschaftliche Anerkennung bemüht ist, ebenso gelungen zu transportieren wie den zerrissenen Mann aus ärmlichem Haus, der plötzlich Mitleid empfindet und von dieser Emotion selbst am meisten überrascht scheint. Wie das Gros der Charaktere laboriert der junge Leutnant in Freys Inszenierung an einem ausgewachsenen Berührungs-Tick. Fast so, als möchten die Figuren ihr Mitleid gestisch zum Ausdruck bringen, streichen sie sich grotesk-liebevoll über Arme, Körper und Gesicht. Das wirkt nicht nur auf Aphephosmophobiker latent irritierend; gleichzeitig sind die gezielten Streichel-Attacken aber nie wirklich liebevoll. Immer ist die Hand unnatürlich überstreckt, als wäre da eine mentale Barriere, die das richtige, das einzig korrekte Mitleid verhindert. Und tatsächlich wirft Doktor Condor (Theo Helm als alles durchschauender, souveräner Tiefen- psychologe, der gerne und oft kassandrahafte Ratschläge erteilt) genau das Hofmiller vor. Er empfinde eine bloße Ungeduld des Herzens, zum wahren Mitleiden sei er nicht fähig. Intensive Monologe akzentuieren den empathischen Faden. Wie besessen springt Hofmiller Seil, während er gefühlslastig seine Zweifel in die Welt hinaus deklamiert. Eine beeindruckende Leistung und das nicht nur aufgrund des szenischen Effekts, den das abgedunkelte Spiel und das durch die Luft sausende Seil erzeugen. (Hofmiller verhüpft sich fast nie, Neid!).
Wechselbad der Gefühle
Kristina Kahlert gestaltet Edith als zerrissene Existenz, die schwer mit dem eigenen Schicksal hadert. Einerseits ist da die omnipräsente Melancholie des gelähmten Mädchens, die sie immer wieder in jähzornige, wütende Verzweiflungsanfälle ausbrechen lässt. Gleichzeitig hat das verbitterte Mädchen dann aber doch wieder weiche Momente, die ihre Hoffnung auf Heilung zum Ausdruck bringen. K. Kahlert fängt alle Schattierungen ein und präsentiert sie feinfühlig und klar. Es ist auffallend, dass sich nur Edith – und Frau Engelmayer – nicht am gestischen Streichel es raus!-Spiel beteiligen. Vielleicht liegt es am Mangel an Empathie; Edith hat nur Gedanken für die eigenen Empfindungen und Frau Engelmayer (Christiane Warnecke) fungiert meistens als unparteiische Über-Instanz. Mit ironisch-schlagfertiger Zunge hält sie die Zügel des Bühnen-Geschehens fest in der Hand, dessen groteske Ansätze sie wortgewandt lenkt. Immer wieder rufen ihre süffisanten Bemerkungen Gelächter hervor, die pointiert ins Schwarze treffen. Lajos von Kekesfalva (Olaf Salzer) tritt indes als liebevoller, sanfter Vater und magyarisierte Graf auf. Vergessen ist die dunkle Vergangenheit des kleinen jüdischen Agenten Lämmel Kanitz. Rührend um das Wohl der Tochter besorgt, fleht der reiche Assimilierte den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Offizier um Hilfe an. Alleine ist Hofmiller sozial deformiert und ekelt sich vor der verkrüppelten Tochter. Vielmehr zieht es ihn da schon zur verlobten Nichte, Ilona (Alexandra Sagurna). Die kokettiert unauffällig mit dem jungen Offizier; immer wieder wirft sie in seiner Gegenwart spielerisch ihr Haar zurück, ehe sie in die Offensive geht und den Körperkontakt sucht, nur um sich danach aus Mitleid doch wieder zurückzuziehen und für Edith zu appellieren.
Bühne an Dr. Freud
Bei Rudolf Freys Inszenierung rückt die Bühne als pathologisches Schlachtfeld (oder tiefenpsychologisches Wimmelbuch) ins Zentrum und ist zu fantastisch, um einfach so den Blick wieder davon abwenden zu können (Bühne: Vincent Mesnaritsch). Viel zu viel gibt es darauf zu entdecken; da sind die zu aufgebrochenen Bühnenbretter arrangierten Teile des Bodens, die dem originalen Bühnenboden zum Verwechseln ähnlich sehen. Eine kleine Insel in der Mitte und an der Seite wurden erhöht, abgebrochene Bretter zieren die Ränder. Die kleine penibel arrangierte Bild-Szene erweckt den Anschein, als handle es sich um die letzten Reste einer glorreichen Vergangenheit. Doch die Zeiten ändern sich; der Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzt dem scheinbar so glanzvollem Leben auf Schloss Kekesfalva ein Ende, die deformierte Tochter besiegelt das Schicksal. Zurück bleibt ein Trümmerfeld, das auch die Psyche der Figuren widerspiegelt und leichtes Schaudern evoziert. Hier ist man nicht Mensch, hier will man nicht sein! Den multifunktionalen Schrank, der an modulare Minibehausungen in Asien und Setzkasten erinnert, den nähme verfasserin dann aber doch sehr gerne mit. Staunend sitzt sie davor und beobachtet, wie Schauspieler*innen darin entschwinden und durch Regale in der nächsten Etage wieder auftauchen, wo sie, sehr zur Freude des inneren Kindes, eine Glühlampe einschalten, die munter von der Schrankdecke baumelt, während Kaffee getrunken wird. Oh ja, hier ließe es sich tatsächlich aushalten.
Zwischendurch überall Standmikrofone, die ausgewählte Stellen gewichtig ins Publikum übertragen; bei besonderer Importanz wird zusätzlich noch der entsprechende Scheinwerfer präzisiert (Licht: Marcel Busa). Diese und andere zeitgenössischen Effekte lassen das Drama noch intensiver erscheinen. Die Zerrissenheit des Figurenrepertoires spiegelt sich aber auch wunderbar im Cross-Dressing der verschiedenen Figuren (Kostüme: Elke Gattinger). Spannende Akzente setzen die Kombis aus historisch und neu, die an Steem Punk denken lassen und gleichzeitig nostalgische Reminiszenzen evozieren.
UNGEDULD DES HERZENS ist ein Stück über den Mut und das Verantwortungsbewusstsein, in dem es das Mitleiden immer und immer wieder durchspielt und dekonstruiert. Die Moral sitzt! Und das temporeich und effektiv.
Fotonachweis: Jan Friese // Schauspielhaus Salzburg
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