SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND
Gesellschaftsaufstellung am OFFtheater: theater.direkt inszenierte mit ZWÖLFTER SEPTEMBER einen zeitaffinen Monolog mit Hang zu fantastisch-morbiden Ausbrüchen aus dem gesellschaftlichen Korsett.
Ein sehr bekannter Philosoph war der Meinung, man könne heute nicht mehr so erzählen wie früher. Ich glaube, es war Roland Barthes, der mir damit das beste Argument gegen meine ausgewachsene Historienroman-Aversion lieferte. Endlich konnte ich philosophisch fundiert argumentieren. Außerdem hat natürlich recht, der (vermutlich) Roland. Dem zeitlichen Kontext entkommt niemand – auch nicht die Dramatiker. Évelyne de la Chenelière ist so ein Beispiel. Die Québecerin (was für ein tolles Wort) schrieb ein Stück über Helikopter-Mütter, Selbstreflexion und die Welt da draußen: ZWÖLFTER SEPTEMBER. Zeitgenössischer geht eigentlich kaum – jetzt ist das Monologstück als Deutschsprachige Erstaufführung des theater.direkt am OFFtheater zu sehen.
In aller Plot-Kürze
Eine Mutter wird von der Schule angerufen, ihre Tochter klagt über Bauchschmerzen und möchte bitte abgeholt werden. Zum vierten Mal binnen kurzer Zeit. Als sich die Mutter auf den Weg macht, wechselt sie von Sorge zu Ärger, von Miteid zu latenter Aggression und zurück zur Sorge. An der Schule angekommen, eilt sie trotzdem nicht sofort ins Sekretariat, sondern setzt sich auf ein Bänkchen im Schulhof. Während sie den anderen Kindern beim Spielen zuschaut, schlüpft sie in ihre Rollen und dichtet ihnen Emotionen und Geschichten an – von heiter bis morbid endet der Tagtraum in einem imaginierten Amoklauf.
Puristisch, clever, gut
Michael Kolnbergers Inszenierung hält sich bei der Ausstattung der Produktion penibel an die Regieanweisung (Inszenierung und Dramaturgie: Michael Kolnberger, Verena Holztrattner). „Minimaldek.“ steht da zu lesen und minimal beschreibt auch das Setting, das Anton Zgubic kreierte. Zwei rote Bänke, ein Stuhl und eine kleine Crossover-Bag in Mary Poppins-Manier – die unaufhörlich Requisiten produziert. Mehr ist nicht nötig, um ZWÖLFTER SEPTEMBER das visuelle Fundament zu verleihen. Den Rest erledigen ohnedies Schauspiel und musikalisches Arrangement. Christiane Warnecke schlüpft für das ambivalente und trotzdem herrlich selbstironische Drama in die Mutter-Rolle. Mit ihr fällt oder steht die Inszenierung – in diesem Fall steht sie und das felsenfest.
Gesellschaftsaufstellung
Wie äußert man Kritik, ohne dafür den Vorschlaghammer zu zücken? Christiane Warneckes Figur zeigt es vor. Leicht verärgert macht sie dem Frust über das erneute Unwohlsein der Tochter Luft. Dabei pendelt sie von verständnisvoll zu vorwurfsvoll in immer extremere Gedanken-Gefilde. Während sie sich anfangs leicht verschämt vorstellt, wie es wäre, eine selbstsichere Tochter zu haben, schlüpft sie am Schulhof schon munter und selbstverständlich in die Rollen der anderen. Christiane Warnecke gelingt das Upgrade von einer Figur zu zwei in einer problemlos.
Egal ob kleiner blutender Junge oder überforderter Spazierengänger, jedem Charakter verleiht sie eine eigene Note, die sie mit gestischen Ticks untermauert. Bei dem Mädchen mit nur einem Auge ist es ein zwanghaftes Zucken, das dem pathologischen Monolog den finalen Schliff verpasst. Melissas Mutter lässt sie sich lasziv auf der Bank räkeln, ehe sie über ihre eigene Fantasie erschrickt und sie schnell wieder abstreift. Die Traumsequenzen werden von wunderbar psychedelisch verlangsamten e-Klängen begleitet, die das Geschehen intensivieren.
Der Tag danach
Im Prinzip ist der ZWÖLFTER SEPTEMBER eine große Gesellschaftsaufstellung, die einen Querschnitt durch die (mütterlichen) Ängste unserer Zeit bietet. Der Titel scheint nicht zufällig gewählt und könnte als Anleihe auf das „Danach“ durchgehen. Nach dem 11. September, der 2001 traurige Berühmtheit erlangte, war alles neu. Plötzlich schienen selbst verdrängte Ängste begründet. ZWÖLFTER SEPTEMBER knüpft als Tag danach daran an und gibt ihnen eine Bühne, ist aber dennoch keine düstere Absage an die Welt – nur eine fantasievolle, morbide und bisweilen sogar ironisch-humorvolle Warnung. Letzteres liegt aber auch an der Spielweise Christiane Warneckes, die das divergente Monologstück als One-Woman-Show ausdrucksstark auf die Bretter im OFFtheater hebt (oder in diesem Fall schiebt).
Fotonachweis: theater.direkt
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