1000 Tutorials | Ensemble | (c) Tobias Witzgall

1000 Tutorials – Kammerspiele

From Haifa with love: Ronnie Brodetzkys 1000 TUTORIALS – How to get up from a chair feierte an den Salzburger Kammerspielen Uraufführung. Bunt, schrill und ernüchternd real.

Die ganze Welt ist eine Bühne – nicht nur für William Shakespeare, sondern auch für Ronnie Brodetzky. Die israelische Regisseurin und Autorin lässt sich bevorzugt von der Gegenwart inspirieren. Sie greift aktuelle Themen auf, bearbeitet sie und entlässt sie in herrlich schräger Form ans Publikum.

Skurril, bunt und aufgrund all ihrer Brüche sind die Stücke von Brodetzky absolut sehenswert. Zum Glück für Salzburg macht die Regisseurin außerdem gerne gemeinsame Sache mit dem Landestheater. Bereits AQUARIUM wurde zwar in Israel uraufgeführt, eigens für Salzburg aber auch in eine Extrafassung gebracht: Lippensynchron erzählten die Schauspieler*innen aus dem Leben Salzburger Senior*innen. Auf AQUARIUM folgte jetzt die österreichische Uraufführung von 1000 TUTORIALS. Selbstverständlich ebenfalls in Original-Salzburger Fassung und mit ähnlichem Team (Ausstattung: Ruth Miller, Choreo­grafie: Tal Cohn).

1000 TUTORIALS: Wie lebe ich mein Leben?

Basis des multimedialen Bühnentreibens ist Generation Z: Alles ist im Internet abrufbar. Von „Wie entferne ich Katzenhaare von meinem Pullover?“ über „Wie küsse ich richtig?“ bis „Wie trenne ich mich?“. Warum also nicht gleich ein ganzes Stück darum kreieren und ein „Wie lebe ich mein Leben?“ auf die Bühne bringen. Ronnie Brodetzky und ihr Team ließen sich von den skurrilsten YouTube-Tutorials inspirieren, die die Rahmenhandlung bilden. Als Binnenhandlung sitzt bereits vor Vorstellungsbeginn ein einsamer Schauspieler (Hanno Waldner) auf der Bühne. Er ist der Beobachter, der die Tutorials konsumiert, seine Informationen aus ihnen schöpft und sie lebt. Deshalb ist er als Einziger auch immer fix auf der Bühne präsent – auf seinem Stuhl im Hintergrund.

YouTuber Typen

Die YouTuber sind ein ziemlich bunter Haufen, alle sind sie da. Das hyperaktive Pärchen, das alles „mega“ und „voll krass“ findet und das Publikum an den privatesten Dingen teilhaben lässt (Patrizia Unger und Maximilian Paier grandios überdreht). Was anfangs noch sehr amüsant ist, erhält ziemlich bald einen voyeuristischen Beigeschmack. Das stört vielleicht die Leute vor den Bildschirmen, aber nicht die beiden YouTuber selbst, die ihren „fame“ in vollen Zügen auskosten.

Sehr gelungen auch Larissa Theresa Nathalia Enzi (Larissa Enzi).1000 Tutorials | Ensemble | (c) Tobias Witzgall Richtig, zwecks besserer Authentizität werden die Bühnen-Ichs mit den tatsächlichen Namen der Darsteller versehen. Das schafft Nähe und auch Verwirrung. Was ist jetzt echt, was nicht? Die prollige Kampfsportlerin mit Yoga- und Tanzerfahrung lebt jedenfalls ihren Selbstverteidigungstraum. Sehr zum Leidwesen von Yevgeny alias Martin (Martin Trippensee), der als Opfer einmal quer durch den Raum geprügelt wird. Als er zurückschlägt, kann das Larissa ja noch verkraften. Als er dann aber in einem Tutorial eine Orange zu Übungszwecken küsst, ist es aus. Sie macht Obst- und Gemüsesalat aus ihrem Kollegen.

Schlag nach bei YouTube

Martin hat auch einen eigenen YouTube-Channel. Da küsst er besagte Orangen oder demonstriert, wie der Boden effektiv gereinigt wird, um nicht darauf zu verunfallen. Es sind herrliche Bridget-Jones-Momente, wenn Trippensees Charakter über die Gefahr von Singles und Putzen philosophiert. Genia Maria Karaseks Figur hingegen findet ihren Romeo just über das Video auf einer Single-Plattform. 1000 Tutorials | Ensemble | (c) Tobias WitzgallImmer wieder bricht sie dabei hysterisch in Tränen aus, wenn sie auf Katzen zu sprechen kommt. Und sie redet ständig über Katzen. Das sollte vermutlich ein Warnsignal sein, kann den männlichen Gegenpart aber keinesfalls abschrecken. Als sie schniefend in den virtuellen Raum fragt, ob sie überhaupt jemand treffen wolle, folgt sein durchaus euphorisches „ja, ich!“.

Das erste Date, das zweite und viele, viele Jahre werden mit YouTube Tutorials absolviert, bis kein Auge mehr trocken bleibt. Das ist zwar extrem erheiternd, aber gleichzeitig ist 1000 TUTORIALS auch genau deshalb unglaublich traurig. Wer will die Blaupause seines Lebens im Internet finden?1000 Tutorials | Ensemble | (c) Tobias Witzgall Sehr deutlich wird das, wenn der Protagonist zu seinem Blind Date mit Orchidee anrückt, die ihm von den Schlange Stehenden YouTubern gereicht wird. YouTube als Chiffre für den immer währenden Begleiter. Eine ungemütliche Vorstellung, die wunderbar subtil in die Choreografie eingearbeitet wurde.

When Komik meets Tragik: 1000 TUTORIALS

Zum Abspann laufen noch die Originalvideos, quasi die Quellen der Inspiration über die Bühne. Tatsächlich, die sind ja echt. Von der heulenden Katzenmama bis zum Kampfsportfanatiker. Spätestens jetzt wird vermutlich das Hirn rattern und die Komik von einer gewissen Tragik überlagert, die aber zum Denken anregt. Und das ist vermutlich auch die Intention von Ronnie Brodetzkys schrillem multimedialen Bühnenspektakel, das mit bunten Kostümen und temporeichen Choreografien die Spaßgesellschaft befeuert. Aber, so zuckerrosa, wie es den Anschein hat, ist 1000 TUTORIALS – How to get up from your chair eben gar nicht. Bei aller „instagramability“ lebt es von seiner charmant und subtil servierten Kritik.

 

Fotonachweis: Tobias Witzgall

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