Kafka to go am Schauspielhaus Salzburg
Probst du noch oder streamst du schon? DER PROZESS am Schauspielhaus Salzburg ist als Mitschnitt für einen Monat auf der amerikanischen Netzbühne YouTube verfügbar. Modern und jugendlich anders.
Eigentlich sind Jubiläen wunderbare Angelegenheiten. Gute Laune, wahrscheinlich Musik und im besten Falle auch noch ausreichend Speis und Trank – außer es handelt sich um Covid19. Die Pandemie hat Geburtstag. Pünktlich zum traurigen Wiegenfeste feierte auch das Schauspielhaus Salzburg: Allerdings ausgelassener, nämlich ersten Video-Stream. Ein Jahr musste das Publikum ausharren, dann sprang auch das Haus in Nonntal auf den Online-Zug auf. Statt exklusiver, weil einmaliger und genau deshalb auch wackeliger Live-Übertragung, zeigt sich das Schauspielhaus spendabel. Alle Kulturhungrigen dürfen sich einen ganzen Monat lang am Probenmitschnitt von Ben Pascals DER PROZESS erfreuen und so die Zeit bis zur nächsten Premiere verkürzen (Video und Postproduktion: Remo Rauscher, Ausstattung: Agnes Hamvas, Musik: Paul Hochrainer).
In aller Plot-Kürze
An manchen Tagen hätte man mal lieber im Bett bleiben sollen. Wer das nicht glaubt, sollte Franz K fragen. Am Morgen seines 30. Geburtstages erwartet den braven Bankprokuristen statt des Frühstücks seiner Vermieterin ein Wächter. Er wird eines Vergehens beschuldigt, dessen ihn niemand in Kenntnis setzt. Verurteilt durch ein Gericht, das nicht greifbar ist. Während Franz K. sich noch bemüht, die Justiz von seiner Unschuld zu überzeugen, verstrickt er sich auch schon immer tiefer im System. Am Morgen seines 31. Geburtstages wird er wieder von den Wächtern begrüßt. Das Fleischermesser in ihren Händen lässt nichts Gutes ahnen.
Völlig losgelöst: DER PROZESS
Dass gleich zu Beginn des virtuellen PROZESS die Durchsage zum Fotografie- und Videoverbot ertönt, sorgt für Erheiterung, auf schräge Art und Weise. Tatsächlich scheint die Inszenierung das Versprechen auch umgehend einzulösen. Wer auf sich verengende Gänge und endlose Reihen von Türen wartet, tut das vergebens. Regisseur Ben Pascal orientierte sich vielmehr an einer der Wirklichkeit entrückten Welt, die Franz Kafka mit den berühmten Fragmenten kreierte, und lässt die Inszenierung schweben. Metaphorisch gesprochen. Tatsächlich bewegen sich Figuren und Kulisse in einem entrückten Zeit-Raum-Kontinuum. Sie oszillieren zwischen Samuel Beckett und Absurdem Theater, zwischen lautem Bass und schillernden Video-Projektionen.
Dazwischen das Bühnenbild, das wie eine Mischung aus Carl Spitzwegs „Der arme Poet“ und Messie-Wohnung anmutet. Gleichzeitig bietet sie einen idealen Parcours für die unergründliche, kafkaeske Behördenwelt mit einem Hauch Künstliche Intelligenz. Die steht paradigmatisch für die Entfremdung des Menschen in der Moderne. Übrigens damals wie heute. Aktuell lässt sich aber auch die Corona-Thematik nicht mehr aus dem Diskurs wegdenken. Von lustigen zeitgenössischen Spielereien wie der JÖ-Bonusclub-Card abgesehen, die Josef K. den Wächtern entgegenhält, sind die Parallelen zur Pandemie (unbewusst) omnipräsent. Wenn der Aufseher (Pit-Jan Lößer) verkündet, dass K. zwar schuldig sei, aber dennoch seiner Arbeit nachgehen dürfe, dann sorgt das subtil für Assoziationen in Richtung Politik und Pandemie-Bewältigung.
Welcome to the world of Fetisch
Josef K. (Lukas Koller) ist ein trotziger, naiver Angestellter in Kellner-Kluft aus dem letzten Jahrhundert, was ihm bisweilen den Anschein eines Croupiers beschert. Anfangs verwirrt, dann latent aufmüpfig bis arrogant, dazwischen auf amourösen Abwegen, muss K. vor der Übermacht und Willkür des mysteriösen Gerichts kapitulieren. Heiter absurd hingegen das adipöse Wächter-Duo Willem und Franz (Sophia Fischbacher und Marko Vlatkovic). In Sherlock Holmes Aufmachung kugeln sie durch die Kulisse. Sehr mitleiderregend die Bestrafung durch den Prügler (Pit-Jan Lößer). Der steht da in seinem Outfit aus dem Fetisch-Shop und genießt die Hiebe sichtlich.
Überhaupt orientiert sich dieser PROZESS bisweilen am Manga-Phänomen. Anleihen bieten neben Erwachsenencomics auch Kostümierung oder das Fehlen eben dieser. Sinn ergibt beides nicht, sorgt aber für futuristisch-schräge Anleihen und jugendlichen Touch. Auch Berthold (Lena Steinhuber) sorgt für Kopfkratzen. Schleicht er doch in Affenkostüm über die Bühne. Liegt das daran, dass das Kostüm so spaßig ist, und man in der Findungsphase zufällig darauf stieß oder verbirgt sich eine Botschaft dahinter? Zum Beispiel der dezente Hinweis, dass der Mensch halt doch vom Affen abstammt. Damit wäre auch der Sprung zur sexuellen Nötigung nicht weit – die ist bei diesen Artgenossen nämlich, wie auch beim Menschen, sehr beliebt. Haariges Kostüm hin oder her, die Übergriffe auf die Frau des Gerichtsdieners (Sophia Fischbacher) bleiben bedrückend.
Interpretiere sich, wer kann
Die Kostüme speisen sich aus fast allen Epochen post-Kafka. Dazwischen tummeln sich übergroße Puppengesichter mit übergroßen Augen (Stichwort Manga) und sorgen dafür, dass die Inszenierung völlig dem Realen entschwebt. DER PROZESS am Schauspielhaus lässt sich nicht verorten. Selbst die seriöse Gesetzes-Parabel erhält ein amouröses Eigenleben, wenn sie von Pit-Jan Lößer als Pfarrer lasziv in den Raum geworfen wird – Abgang durch das Bett.
So enthoben das Geschehen auch sein mag, das Ende erstaunt dann doch, da es unverhofft den roten Faden zum Anfang offeriert. Und während das Publikum noch grübelt, alles nur geträumt oder doch real, steckt da mit den gelben Anleihen nicht auch ein bisschen das Scheitern des Werthers am Leben drin, fällt auch schon der virtuelle Vorhang und bietet jede Menge Stoff zum Nachdenken. Das überbrückt dann auch die Wartezeit bis zur nächsten Premiere auf der echten Bühne.
Fotonachweis: Jan Friese
Artikel zum Download in PDF-Format by