Armes Theater Wien will Meer
In Ottakring inszenierte Erhard Pauer Ibsens DIE FRAU VOM MEER – und erweckt den norwegischen Psychothriller spielfreudig und packend zu neuem Leben.
Irgendwo da draußen schwappt sanft das modrig-faule Brackwasser im Fjord. Irgendwo da draußen verzehrt sich Ellida Wangel nach dem Meer. Dem richtigen – nicht dem süß-salzigen Wassergemisch des norwegischen Kurorts, in das es sie durch ihre Heirat mit dem Amtsarzt verschlagen hat. Genau das ist auch das Dilemma der seltsamen zweiten Frau des angesehenen Fjord-Mediziners, die jeder Einheimische nur „die Frau vom Meer“ nennt. Täglich pilgert sie ans Brackwasser und taucht in eine andere Welt ein. Zu viel für den lebensfrohen Doktor, der sich hilfesuchend an den alten Oberlehrer seiner Töchter wendet. Und dann erfährt Wangel auch noch von der mysteriösen Verlobung, die Ellida vor ihrer Ehe mit einem geheimnisvollen Seemann einging.
Von außen nach innen
In Ottakring gibt es selbstverständlich weder Brackwasser noch Meer. Daran können auch noch so ambitionierte (Regie)Theater-Inszenierungen nichts ändern. Geld regiert die Theaterwelt und ohne Subventionen lassen sich weder überdimensionale Aquarien installieren noch der Bühnenboden fluten. Ein schnödes Planschbecken ist auch keine Lösung. Deshalb nicht lange grübeln und zu kreativen Taten schreiten – das Armes Theater Wien macht es mit Ibsens DIE FRAU VOM MEER vor. Für die Sommer-Inszenierung verlagerte das Off-Theater das zum Gros im Freien stattfindende Geschehen nach innen. Das Seelenleben der Protagonisten steht damit nicht nur thematisch, sondern auch szenisch im Fokus. Inneres wird bei Erhard Pauers Inszenierung gnadenlos offengelegt und mit Hang zum Detail seziert (Bearbeitung: Krista Pauer, Regieassistenz: Marcel-Philip Kraml). Auf allzu offensichtliche Wertung wird dabei verzichtet; finale Ergebnisse überlässt der Regisseur dem Publikum, das ohnedies die richtigen Schlüsse für das eigene Wohlbefinden ziehen wird – und dabei die Imagination Purzelbäume schlagen lässt.
Ibsen entlüftet
Genügend Raum zum Atmen und zur Stoffentfaltung – die aktuelle Produktion klammert sich nicht starr an ein gestriges Dramen-Korsett, sondern setzt auf sanfte Neuerungen. Damit gehen kleine Differenzen einher: Auf Ballestedts Porträt fehlt die halbtote Meerjungfrau, zu der ihn Ellida inspirierte (Klaus Fischer als humoriger Ballestedt). Da scheint es nur legitim, dass auch das Ende verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offeriert. Bei aller Liebe zu Neuem verbeugt sich selbst die entstaubte FRAU VOM MEER vor dem Original. Stichwort: Symbolismus – Ibsens Steckenpferd gleich nach der obligatorischen Sozialkritik oder der Anprangerung von Geschlechter-Divergenzen.
Packender Psychothriller
Ellidas Nähe zu den Selkies ist Plot eminent und auch in der Wiener Off-Produktion frappant. Die Selkies sind Robben, die an Land kommen und ihr Fell ablegen. Als wunderschöne Frauen wandeln sie unter den Menschen, bevor es sie zurück ins Meer zieht. Das gelingt im Mythos allerdings selten, weil sich davor meistens ein Mann in die Robbenfrau verliebt, ihr Fell versteckt und die Selkie so an der Heimkehr hindert. Eine unglückliche Liaison, die der von Ellida und Wangel ähnelt; hier wird das Naturelement allerdings durch die bürgerlichen, patriarchalischen Zwänge ersetzt.
Den mythologischen Aspekt greift bereits das Kostüm der „Frau vom Meer“ auf. Blau, wie das Element, dem sie entstammt und nachdem sie sich verzehrt. Vervollständigt wird Ellidas geheimnisvolles Wesen durch Krista Pauers verträumt-abwesende Interpretation mit Hang zum Pathologischen. Entweder exzessiv manisch oder hochgradig depressiv; das Seelenpendel schlägt immer in das eine oder das andere Extrem aus. Neutrale Graubereiche kennt es nicht. Unterstützt wird die emotionale Achterbahnfahrt von einer subtilen Verortung im Diesseitigen. Mythos, ja, aber mit sehr greifbaren Anspielungen, die nicht nur Hobby-Diagnostikern Anreiz bieten. Der mysteriöse Seefahrer-Bräutigam befeuert die Imagination zusätzlich. Es ist gerade seine physische Abwesenheit, die den Psychothriller-Charakter nach oben schraubt und durch die Decke katapultiert. Was ist Sein und was Schein? Was findet im Wahn statt und was ist noch Realität?
Ganz in Schwarz mit einem Trauerstrauß
Ausstattung und Kostüm der beiden Schwestern Bolette und Hilde sprechen in der ersten Szene Bände. Jedes Jahr feiern sie den Geburtstag der verstorbenen Mutter – und waren dafür offenbar bei einem Bestatter shoppen: Schwarze Ballons werden von schwarzen Kerzen flankiert, mit schwarzen Blumen ergänzt und von schwarzen Servietten abgerundet. Das Kleine Schwarze gibt es als Bonus oben drauf. Dass Bolette und Hilde an seelischen Problemen laborieren, wird rasch deutlich. Als schlagfertig pubertierender Albtraum hält Hilde (Celina Dos Santos) niemals mit ihrer morbiden Meinung hinterm Berg – sehr zum Amüsement des Publikums. Etwas erwachsener und sanftmütiger zeigt sich Bolette (Cornelia Mooswalder), auch wenn sie sich in Sachen Zungenschärfe mit der Schwestern messen kann – da lenken selbst die harmlos geträllerten norwegischen Weisen nicht mehr ab. Ihr rebellisches Wesen haben die beiden keinesfalls vom Herrn Papa; Dr. Wangel ist eingangs die perfekte Reinkarnation eines ewigen Optimisten und heiteren Vermittlers zwischen Stiefmutter und Töchtern. Die gut gelaunte Fassade seiner Figur lässt Aris Sas peu à peu bröckeln – der immer häufigere Griff zum Glas scheint den Prozess optisch zu unterstützen. Den Träumen, Hoffnungen und Fantasien seiner meeresaffinen Frau ist der Festlandarzt hoffnungslos ausgeliefert. Sämtliche Kuren und Heilungsansätze scheinen zum Scheitern prädestiniert. Was drollig sein könnte, wird rasch unappetitlich. Mit jeder weiteren Enttäuschung wandelt sich der beliebte Doktor in ein wütendes, enttäuschtes Abbild seiner selbst – und entwickelt dabei ganz eigene destruktive Obsessionen.
Zeitreise
Zwischen den Wirren des emotionalen Ausnahmezustands im Hause Wangel irren Arnholm (Daniel Ruben Rüb) und Lyngstrand (Florian Sebastian Fitz) umher. Bei Arnholms etwas tollpatschigem, aber umso sympathischerem Heiratsantrag tönt ein gequältes „Nein!“ aus den Publikumsreihen – Theater zum Mitleben. Als gewinnender Jungspund setzt Lyngstrand auf üppige Schmeicheleien, florale Geschenke und rutscht beinahe auf der eigenen Charme-Spur aus. Wie praktisch, dass ihm unerwartet die wilde Hilde zu Hilfe eilt. Mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen bringen Arnholm und Lyngstrand dem Publikum Ibsens Kritik am Frauenbild so lebendig und wortgewandt näher, dass bei ihren Theorien – Tragik hin oder her – selten ein Auge trocken bleiben dürfte. Vielleicht liegt das aber auch am hohen Wiedererkennungswert der noch gar nicht so antiquierten Vorurteile.
Der Sprung ins aktuelle Jahrhundert gelingt dem Armes Theater Wien mit DIE FRAU VOM MEER vorzüglich. Ironischen Pointen aus dem Jetzt lockern die moralischen Zaunpfahl-Winke aus dem Gestern textlich auf – erstaunlicherweise ohne, dass das Stück dabei an Seriosität oder Glaubhaftigkeit einbüßt. Meer – wer braucht denn schon das Meer, wenn er das Wiener Volksliedwerk mit Schotterparkplatz und Grünstreifen für Fjord und Uferpromenade als Kulisse hat.
Fotonachweis: Martin Hauser
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