Die Geister, die Goethe rief
Frech, modern und trotzdem dem Sturm und Drang verhaftet: Johannes Enders Inszenierung DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS überzeugt mit gelungenem Crossover.
Goethe hatte genug. Schon kurze Zeit, nachdem der Dichter mit seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ zur europäischen Berühmtheit aufstieg, ärgerte ihn die Frage nach dessen Authentizität. Was er 1774 in nur vier Wochen niederschrieb, traf den empfindsamen Zeitnerv mit voller Wucht: Die Dreiecksgeschichte um den maßlos liebenden Werther, seine Angebetete Lotte und deren Verlobten nebst Selbstmord von Ersterem. Die Folge war ein absoluter Werther-Hype, von wegen nur Teenie-Mädchen kritzeln ihre Schulhefte mit Herzchen voll: Im 18. Jahrhundert kleideten sich junge Männer wie Werther (blauer Frack, gelbe Weste) und frönten dem Kult um die fiktive Figur mit den autobiographischen Parallelen. Herrlich, diese Emotionen, die eigentlich ganz im Sinne des Stürmer und Drängers Goethe hätten sein müssen.
Um Empfindsamkeit geht es auch in Johannes Enders Neuinszenierung des Goethe’schen Klassikers (Bühne und Kostüme: Hannah Landes, Dramaturgie: Friederike Bernau). Der junge Regisseur wählte dafür ein poppiges, lebensfrohes Crossover, angesiedelt zwischen Sturm und Drang und der Moderne, garniert mit einem Hauch Neunziger (ein Kassettenrekorder hat seinen kleinen-großen Auftritt als Requisite). Das Resultat ist eine temporeiche Interpretation des WERTHERS mit spannenden Dialogen. Die entpuppen sich als regelrechte Epochen-Wanderer und pendeln zwischen dem sprachlichen Duktus eines Dichterfürsten aus dem 18. Jahrhundert und zeitgenössischen Sprachstrukturen. Eine passende Einstiegshilfe für nicht ganz so sprachaffine Theaterbesucher *innen, ein amüsanter Bonus für Sprach-Verliebte und frischer Wind in der Goethe-Rezeption.
Hyperaktive Hyperbel
Die temporeich-freche Note wird durch die moderne Figuren-Führung unterstützt. Ganz klar, dieser WERTHER zielt auf ein junges Publikum: Die Darsteller*in pendeln zwischen Erzähler*in und Protagonisten*in. Sie transportieren den Briefroman locker-leicht auf die Bühne, während sie unaufdringlich ihre didaktische Mission erfüllen und den Lehrern*innen die Arbeit erleichtern. Hier besteht nachträglich nur noch wenig Erklärungsbedarf. Zwecks Auflockerung werden immer wieder überspitzt-absurde Szenen eingestreut, die mit dem altehrwürdigen Charakter brechen. Während Werther von der Natur schwärmt, tapsen zwei große Dinosaurier auf die Bühne und bekriegen sich gegenseitig, ehe sie zu apportierenden Haustieren oszillieren und einen kessen Tanz auf das Parkett legen. Humorig ist auch der Ausflug ins Weltall mit anschließendem Leuchtschwertkampf. Die einen mögen auf Tradition pochen und die clownesken Einlagen wenig goutieren; allerdings gilt einzuwerfen, dass sie für ein junges Publikum, das meistens via Kurznachrichtendienst kommuniziert und Goethes Sprache als klobig und gestrig empfindet, doch eine gewisse Erleichterung bieten und für einen leichteren Zugang sorgen.
Werthers Paintball-Ausflug
Die Schauspieler*in selbst überzeugen mit ihrer Leidenschaft für den Stoff. Als leicht dusseliger Werther stürmt Hanno Waldner ins Auditorium und spielt sich schnell in liebestolle Rage. Voller Elan und Begeisterung dekoriert er die Bühnenwände mit der oft bemühten Natur und greift beherzt in den Farbtopf. Dass er auch anders kann, zeigt sein tiefer Fall auf dem Gefühlskaleidoskop. Beinahe fanatisch klammert er sich an Lotte und Albert, kann die Angebetete nicht gehen lassen; als er es dann doch tun muss, ist sein Leid greifbar. Aller Emotionen beraubt, verlässt er nach dem tödlichen Schuss und einer großen Portion roter Farbe im Gesicht den Raum. Das ist wieder so ein Vorteil dieser modernen Inszenierung – hier wird nicht auf puren Naturalismus bestanden, sondern mit sichtbaren Theatermitteln gearbeitet und heiter überzogen dargeboten, ein Garant für Publikumsnähe. Dass Werther und Lotte für einander geschaffen sind, deutet Johannes Enders Regiearbeit mit einem Gleichklang der Dialoge an, dem die beiden anfangs frönen. Genauso wie dem Spleen, gegenseitig ihre Sätze zu beenden. Rasch zeigt sich, empathisch und leidenschaftlich ist auch sie: Janina Raspe als bereits einem anderen versprochene Lotte. Die junge Frau befindet sich im affektiven Zwiespalt, nur um am Ende dann doch vor der Vernunft zu kapitulieren und Albert zu wählen. Dazwischen heitere Pantomime-Einlagen und jede Menge Requisiten-Comic. Tim Oberließen begeistert als Albert; sichtlich um Kontenance bemüht, ringt er mit sich, sobald Werther seiner Lotte zu nahe kommt. Eifersucht spiegelt sich in Alberts ganzem Ausdruck, als er die beiden in trauter Zweisamkeit ertappt; zeitgenössisch wirft er den Verliebten obszöne Gesten hinterher, die von sozial niederer Provenienz oder der falschen Gesellschaft zeugen. Dass er diese starken Gefühle auch in die Erzählerrolle transportiert, lässt die Grenzen der Figuren verschwimmen und auf spannende Weise spiegeln.
Goethe sagte sich spätestens nach der Überarbeitung 1787 von seinem „Werther“ los und hielt eine nähere Beschäftigung mit dem Roman auf Distanz. Dass er dabei vielleicht doch zu harsch vorgegangen ist, zeigt die moderne Inszenierung in den Salzburger Kammerspielen und die Tatsache, dass das Drama um Werther, Lotte und Albert auch heute noch jede Menge Potential besitzt. Wenn es dann so überspitzt-jugendlich garniert daherkommt wie in Johannes Enders DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS, zündet die uralte Werther-Magie auch bei der zeitgenössischen Jugend. Selbst wenn sie im Anschluss aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu blauem Frack und gelber Weste greifen wird.
Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger
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