DÜRRENMATTS NARRENSCHIFF.
Mit Pauken und Trompeten stellt Peter Raffalts Inszenierung DIE PHYSIKER am Schauspielhaus Salzburg klar: Die Welt ist verrückt. Diesem mentalen Ausnahmezustand hat sich die Produktion konsequent von Bühne bis Schauspiel verschrieben.
Wer hat Angst vorm Kalten Krieg? Niemand! Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon! – Oder aber wir schreiben ein Theaterstück. So wie Friedrich Dürrenmatt. Der fackelte in den 60er Jahren nicht lange, sondern verpackte seine Kritik in einer höchst komödiantischen Farce mit erschreckendem Ende: DIE PHYSIKER. Wrums. Politisch und gesellschaftlich änderte sich freilich wenig; Allmachtsfantasien und größenwahnsinnige Diktatoren dominieren nach wie vor das irdische Treiben. Cyber-Terrorismus gesellte sich dazu und die Profilierungssucht zählt längst zum guten Ton. Die Welt balanciert also immer noch, oder schon wieder am Abgrund. Als probates Gegenmittel inszenierte Peter Raffalt DIE PHYSIKER in wunderbar schräger Krimi-Kaleidoskop-Fasson am Schauspielhaus Salzburg. Der mahnende Zeigefinger lässt sich märchenhaft verrückt an.
In aller Plot-Kürze
Johann Wilhelm Möbius hat sie erkannt: Die Weltformel und überhaupt alle wesentlichen physikalischen Gesetze. Um die Welt vor diesen Erkenntnissen zu schützen, gibt Möbius vor, dass ihm König Salomo erscheine und landet im Irrenhaus des Fräuleins Doktor Mathilde von Zahnd. Einige Jahre später treffen auch Newton und Einstein ein. Das verrückte Physiker-Leben könnte so schön sein, dann aber ermordet Einstein eine Krankenschwester. Bald darauf folgt Newton auf dem Fuß. Als die letzte verbliebene Pflegerin schließlich Möbius ihre Liebe gesteht, hat auch er keine Wahl mehr. Schwester Monika muss weg. Schließlich hat sie erkannt, dass er keinesfalls verrückt ist. Wem jetzt bereits der Kopf schwirrt, der sollte sich vor Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd in Acht nehmen…
Die Physiker: Narrenwelt
Der Schrei, der den Vorhangfall begleitet, ist markerschütternd und angebracht. Schließlich wird das Publikum gerade Zeuge, wie Einstein seine Pflegerin ermordet. Auf ungustiöse naturalistische Details verzichtet Peter Raffalt allerdings (Dramaturgie: Christoph Batscheider). Stattdessen setzt der Regisseur auf das Spiel von Licht und Schatten, die er mit slapstickartigen Einlagen unterfüttert (Licht: Marcel Busá). Einsteins Opfer stirbt mit großen dramatischen Gesten den Tod einer Stummfilm-Diva hinter der Schattenwand. Inspektor Richard Voß (Simon Jaritz) eilt herbei und unterhält sich mit seinem Nebenmann in unverständlichem, aber höchst humorigem und immergleichem Kauderwelsch. Bereits in dieser einleitenden Szene wird das Programm des Abends und Dürrenmatts PHYSIKER-Botschaft einprägsam und doch subtil an das Publikum gebracht: Die Welt ist ein Irrenhaus. Die Dramaturgie macht es vor, die Ausstattung greift es auf und die Schauspieler*innen treiben das verrückte Spiel glorreich auf die Spitze.
Entfesselte Natur
In Raffalts DIE PHYSIKER sind die Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Alles scheint hier auf den ersten Blick als völlig normal und entpuppt sich auf den zweiten als surreal anders: Ein schiefer Stuhl hier, ein entfesseltes Kostüm dort (Ausstattung: Agnes Hamvas). Letzteres trägt bei aller Banalität nicht nur futuristische Anleihen, sondern erinnert auch an Gestriges – ja, manche Kreationen scheinen auf direktem Weg dem „Struwwelpeter“ entlehnt. Die drei Buben von Möbius zum Beispiel, die Antony Connor, Simon Jaritz und Kristina Kahlert in köstlichen Nebenrollen mit Topfschnitt-Perücken zum Besten geben. Besonders Antony Connor läuft zu pubertärer Hochform auf, kichert hysterisch über jedes unflätige Wort und legt eine herrlich kuriose Show-Einlage hin; wunderbar akustisch ruiniert von den beiden emsigen Flötenspielern, die Simon Jaritz und Kristina Kahlert mit genauso viel kindlicher Hingabe liefern.
Wahnsinnig normal: Die Physiker
Ebenfalls Märchenanleihen trägt Krankenschwester Monika Sattler (Kristina Kahlert), tendiert dabei aber auch in Richtung farbenprächtiger Steem-Punk. Mindestens genauso theatralisch lässt sich ihre Figur an: Absolut expressiv fixiert Kristina Kahlert den Saal und grinst manisch. Dass die scheinbar „Normalen“ an solchen Ticks laborieren, ist Regie-Indiz genug, dass die physikalischen Gesetze Kopf stehen – spätestens bei Fräulein von Zahnd (Susanne Wende) sollten die Alarmglocken dann aber laut und deutlich schrillen. Mit schräger Brille und Krückstock humpelt der letzte Spross einer betagten Dynastie durch die Szene und versprüht Milde in rauen Dosen. Die wird alsbald von hysterischen Lachanfällen und weiteren naturgesetzlichen Eskapaden unterbrochen: Schwitzt anfangs nur der Inspektor, wedelt sich jetzt stattdessen das abgebrühte Fräulein hektisch Luft zu. Im zweiten Akt folgt der große Knall, den sie euphorisch-größenwahnsinnig mit den Physikern teilt.
Und König Salomo sprach
Beklemmung dominiert, wenn sich die Wand verschiebt. Das Irrenhaus wird zum Gefängnis und sogar vor der Bühne so greifbar, wie es Möbius (Theo Helm) nie scheint. Der Physiker, der nach dem Erfinder des Möbiusbands benannt ist, verhält sich wie sein Phänomen: Theo Helm kreiert eine ambivalente Figur, die nicht zwischen unten und oben, innen und außen unterscheidbar scheint. Trotzdem gelingt es Helm, subtil zu differenzieren. Als Möbius in seiner wahnsinnigen Rolle hebt er die Stimme, wird laut und predigt eindrücklich von König Salomo. Seinen Kindern und Ex-Frau Lina gegenüber (Ute Hamm gelungen hyper-expressiv) oszilliert er ins Fanatische – um ihnen den Abschied zu erleichtern. Sobald Möbius aus seiner wahnsinnigen Rolle steigt, brilliert er mit sachlicher Überlegenheit. Er hat erkannt, dass die Naturwissenschaft die Welt mit ihren Entdeckungen und Erfindungen zugrunde richtet. Er will sich selbst und das Publikum in die Verantwortung nehmen. Dafür schreitet er an den Bühnenrand und hält eine eindringliche Rede an das Volk. Alleine, „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Möbius‘ Anliegen ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Philosophisch in den Untergang
Als genauso durchgeknallt-genial entpuppen sich Newton (Olaf Salzer) und Einstein (Antony Connor). Der eine im gerüschten, plüschigen (es muss einfach raus) SM-Bademantel, der andere in der gestrickten Zwangsjacke. Beutler, der sich für Newton hält, aber eigentlich auch für Einstein, ist als Newton-Einstein wunderbar verspielt. Ernesti, der sich nur für Einstein hält, gibt sich großartig verschlafen schüchtern. Sobald sie sich als Physiker und Geheimagenten gegenüberstehen, werfen sie ihre Tarnungen genauso eloquent ab wie zuvor bereits Möbius. Absoluter Richtungswechsel auf dem Narrenschiff: Unvermutet debattieren die drei Physiker nach kleiner, komödiantischer Duell-Einlage sehr nüchtern und seriös über die Naturgesetze und etwaige Auswirkungen. Ein philosophischer Diskurs, der gleichzeitig die Wissenschaft freispricht. Denn egal für welche Seite sich der Einzelne entscheiden wird, ob Politik oder Allgemeinheit, der Katastrophe ist nicht mehr beizukommen.
Dürrenmatt an Publikum
Die resignierende Erkenntnis nimmt Inspektor Voß vorweg. Simon Jaritz lässt ihn von zappelig-nervös zu abgebrüht-gelassen changieren. Will der frustrierte Inspektor eingangs noch einen Mörder überführen, ist ihm binnen weniger Stunden alles egal. Ja, er ermittelt fröhlich und genussvoll ins Blaue. Indes werden die drei Pfleger (Ute Hamm als dienstbeflissener Oberpfleger Sievers, Simon Jaritz als Pfleger 1 und Kristina Kahlert als Pfleger 2) zu Boten einer eilfertigen Gesellschaft, die nie hinterfragt, sondern lieber widerspruchslos ausführt – und die die Welt in ihr eigenes Gefängnis drängt.
Akustisch untermalt wird DIE PHYSIKER von subtilen Klängen aus dem Off, die an Sphärenmusik erinnern und einen transzendenten Charakter beschwören (Musik: Georg Brenner). Am Ende kulminiert das überirdische Konzert dann aber in ein durchaus weltliches Hollywood-Crescendo, das Blockbuster-Qualitäten trägt. Wrums. Einmal mehr. Und das in einer wunderbar bunten, manchmal futuristischen und immer philosophischen Inszenierung am Schauspielhaus Salzburg. Wenn das jetzt nicht Aufrüttelung genug war, dann haben wir die Welt gar nicht verdient und sollten uns nicht über die angedrohten Konsequenzen wundern. Weil: Und ist die Welt auch noch so schön, einmal muss sie untergehn.
Fotonachweis: Jan Friese
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