Digitale Uraufführung am Salzburger Landestheater: #ERSTHELFER #FIRSTAID
How I wish you were here. Zu einer Kulisse aus Hubschrauber, Ausnahmezustand und später Pink Floyd entstand am Salzburger Landestheater in der Regie von Nuran David Calis ein Potpourri aus Erinnerungen, Meinungen und Was-könnte-Sein-Entwürfen zur Flüchtlingskrise.
Wenn das Publikum des Salzburger Landestheater nicht ins Theater darf, dann kommt das Salzburger Landestheater eben ins Wohnzimmer – oder wo immer sonst sich der Stream abrufen lässt. Denn ja, das Landestheater ist ab sofort online. Garantiert coronakonform legt es zeitgleich mit der digitalen Uraufführung von #ERSTHELFER #FIRSTAID auch seine Streaming-Premiere hin. Die nimmt mit der „Phänomenologie der Nächstenliebe“, wie die Produktion im Programmheft auch betitelt wird, das Theater höchstpersönlich in die Pflicht. Zurück zu den antiken Ursprüngen, als Theater noch politisch war und die Vernunft und der selbstständige Mensch im Vordergrund standen.
#ERSTHELFER #FIRSTAID – die Uraufführung
Selbstreflexiv und sozialkritisch ist auch das Regiewerk von Nuran David Calis. Der Regisseur erarbeitete mit seinem Ensemble (Larissa Enzi, Nikola Rudle-Jaritz, Skye MacDonald, Maximilian Paier) und Special Guest Heinz Schaden ein höchst aktuelles Stück. Ziel? Die Problematiken der Flüchtlingskrise, die immer weniger Menschen zu berühren scheint. Das liegt nicht nur an Corona, sonder auch an der Psyche, die bei medialer Dauer-Horror-Beschallung irgendwann auf stumm schaltet.
Tatsächlich macht das Elend hilflos und führt die sprachliche Omnipräsenz zu einer abgestumpften Normalität. Die Sprachlichkeit ist abgenützt, die Disaster-Müdigkeit allgegenwärtig und für die Schicksale der Flüchtenden interessieren sie nur noch wenige. Umso spannender geht Regisseur Nuran David Calis mit #ERSTHELFER #FIRSTAID an diese Problematik heran. Die Produktion spielt mit den Ebenen und kreiert über die unterschiedlichen Erkenntnisstadien ein Stück, das sich über festgefahrene Theaternormen hinwegsetzt und die Stärken von neuen Technologien nutzt.
Synonym für die Menschlichkeit
Zu Hubschrauberklängen, Ausnahmezustand und düsterem Licht, zu Menschen in dunkler Kleidung, mit Hoodies und Bomberjacken, erzählt Heinz Schaden seine Geschichte. Hinter ihm eine Wand übersät mit Fotografien, Artikeln und Notizen, die an „Tatort“ erinnert. Das scheint passend, schließlich ist die Bühne an diesem Abend auch ein Tatort. Gleichzeitig gibt der ehemalige Salzburger Bürgermeister sein Schauspieldebüt. Auch wenn er nicht als Schauspieler agiert, sondern die eigene Geschichte deklamiert. Die berührte den Regisseur im Vorfeld so sehr, dass er Schaden ins Stück holte (Bühne: Anne Ehrlich, Licht: Daniela Klein, Musik & Sounddesign: Vivan Bhatti).
Heinz Schaden wird zum Synonym für die Menschlichkeit, die auch in der Politik ihren Platz findet. Da scheint es nützlich, dass er für seine Erzählungen in Umgangssprache fällt und als geduldige Onkel-Figur an späterer Stelle Rede und Antwort steht. Das schafft Nähe. Währenddessen rekapitulieren auch die anderen ihre Erinnerungen. 2015 hatten die einen Freunde und Aperol Spritz auf dem Tagesplan. Statt am Bahnhof zu helfen, musste unbedingt ein Zug für die ersehnte Hospitanz erreicht werden. Die Flüchtenden blendete man aus. Die Selbstvorwürfe folgen in der Retrospektive. Hätte man nicht mehr machen sollen, können, müssen? Die anderen haben sich schon damals engagiert und standen im Anschluss vor dem Gesetz als Schlepper da. Fassungslosigkeit an dieser Stelle und sehr viel Wut.
Die Wut als Instrument
Die Wut ist in dieser Produktion von Sekunde Null allgegenwärtig und zerrt bisweilen an den Nerven. Sie soll vermutlich der verbrauchten Sprache neue Kraft verleihen. Mit ihr werden (politische) Missstände angeprangert, negative Statements so lange ziseliert, bis das Innerste zum Vorschein kommt. Auftritt Heinz Schaden. Jetzt haftet den Dialogen etwas Persönliches an, so als wäre da nur die Fragerichtung vorgegeben. Da driftet auch die Sprachlichkeit ins legere, in regionale Varietäten ab. So subtil wie diese Wechsel auch sein mögen, sie evozieren einen Bruch und sorgen für Aufmerksamkeit. Genau wie die in nonchalantem Tonfall eingestreuten Berichte über Opfer und Helfer, die für mehr Beklemmung sorgen als die wütenden Monologe. Verfremdungseffekte werden eingesetzt, Indikativ wandelt sich zu Konjunktiv, wenn Schauspieler*innen soziales Geschlecht wechseln oder Alan Kurdi eine Zukunft erhält.
Live-Schaltung nach Moria
Die Live-Schaltung stellt den Kontakt nach Moria her. Dort sitzt Sophie Stattegger vor dem Bildschirm. Sie ist nicht nur Heinz Schadens Nichte, sondern auch NGO in einem Flüchtlingscamp. 2017 ging sie auf die Insel, um eine Doktorarbeit über Olivenbäume zu schreiben. Eigentlich nur für ein paar Wochen. Jetzt ist sie immer noch dort und arbeitet nebenbei an ihrer Dissertation. Ihre unaufgeregten Erzählungen aus dem Alltag im Flüchtlingscamp berühren. Ihre Motivation ebenso. Die Live-Schaltung ist im Konzept für jede Vorstellung – also auch die, die kommen mögen, wenn das Stück wieder im Theater vor Publikum aufgeführt werden kann. Ein spannender Aspekt, der für einen gelungenen Bruch sorgt und #ERSTHELFER #FIRSTAID um eine Reportagen-Ebene reicher macht. Gleichzeitig ist mit dieser Produktion auch das Theater wieder näher an seinen Ursprung gerückt. Zurück zur Antike, als Theater noch politisch war und die Vernunft und der selbstständige Mensch im Vordergrund standen.
Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger
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Eine unglaublich gut gemachte Aufführung!!! Packend, und bedrückend bis zum letzten Dialog, wir waren sehr beeindruckt! Großes Lob an die Regie, die authentischen Darsteller und unseren Bürgermeister Dr. Heinz Schaden, der diese schwierige Situation 2015 so hervorragend gemeistert hat!!!