„Das Floß der Medusa“ am Schauspielhaus Salzburg
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Havarie. Susi Webers Inszenierung „Das Floß der Medusa“ am Schauspielhaus Salzburg als schrilles, exaltiertes Theater irgendwo zwischen Wahnsinn, übersteigerter Komik und grenzenloser Tragödie.
Der Theaterausflug als Ausstellungsbesuch mit bewegten Bildern, da macht auch der vorzeitige Einlass Sinn. Zeit genug also, um das Artefakt in der Bühnenmitte zu bestaunen. Hinter pompösen rot-goldenen Kordeln befindet sich das ‚Floß der Medusa‘, geschrumpft und auf Hochglanz poliert. Das zuerst tröpfchenweise, dann zahlreich eintreffende Publikum verstärkt den musealen Charakter und wird durch das Ensemble abgerundet. Die bunte Truppe, die im ersten Augenblick an einen vom Weg abgekommenen Faschingsumzug erinnert, nimmt an einer Führung Teil, ehe sie mit der Erzählung verschmilzt – und sich in einzelne Charaktere aufdröselt, die als GrenzgängerInnen zwischen den Ebenen wandeln. Mal hier hin und mal dorthin, immer den Versuch einer Rekapitulation betreibend, während sie sich wahlweise am Eröffnungsbuffet versus Schiffsbuffet laben.
In aller Plot-Kürze
Im Sommer 1816 läuft die Fregatte Medusa von Frankreich Richtung Senegal aus. Von Anfang an stand diese Reise unter keinem guten Stern. Ein unfähiger Kapitän, einige Frauen und ein Pfarrer an Bord, das könne nicht gut ausgehen, unkte die Mannschaft. Selbst die Ratten schienen das Schiff zu meiden und die haben laut Seemannsgarn besonders feine Antennen für nahendes Unglück. Das ließ auch nicht sehr lange auf sich warten. Alsbald verliert die Medusa die anderen Schiffe aus den Augen. Wenig später läuft die Fregatte bereits auf eine Sandbank auf. Es befinden sich viel zu wenig Rettungsbote für die 400 Mann an Bord, also werden 147 von ihnen auf ein Floß verfrachtet. Von denen werden nach fast 2 Wochen nur noch 15 lebend geborgen. Sehr zum Leidwesen der Rettungsboot-Insassen, die das Floß und das Abhanden kommen jeglicher Moral eigentlich den Behörden und der Öffentlichkeit verschweigen wollten.
Übersteigerung und Verdichtung
Tatsächlich gelang Susi Weber mit dem musealen Rahmen ein Coup. Das Setting ermöglicht die Handlung distanziert aus dem Heute wiederzugeben und gleichzeitig im Gestern zu verankern; es erlaubt, munter zwischen den Ebenen zu hüpfen, ohne in die Verlegenheit zu geraten, allzu naturalistischen Pomp aufzutischen und antiquiertem Kostümtheater zu frönen. Stattdessen akzentuiert Weber die moderne Note, die bereits in Franzobels Roman anklingt. Genau darauf basiert auch dieses „Floß der Medusa“ und hat doch den Vorteil, eine sehr komprimierte Schauspielvariante zu sein. Während sich Franzobel im literarischen Beschreiben der Reise ergeht und jedes noch so kleinste Detail an Deck in aller Länge exerziert, nur um gegen Ende ins Hetzen zu verfallen, entzerren Susi Weber und Dramaturg Jérôme Junod die Handlung und verteilen sie gleichmäßig auf das ganze Stück.
Hoch lebe das Absurde
Der entgleiste Faschingsumzug ist nur scheinbar aus den Fugen geraten. Statt absolutem Kontrollverlust zollt die Regie hier der übersteigerten Figurenzeichnung des Autors Tribut. Der schilderte das Grauen als grelles Puppentheater, mit grotesken und verrückten Zügen. Nur so wird das Unfassbare greifbar und der vollständige Verlust von Moral und Kultur verdaulich. Schließlich wusste es schon Brecht – und ja, auch William Golding oder George Orwell hatten da so eine Ahnung: Erst kommt das Fressen, dann die Havarie. Und die hat sich beim „Floß der Medusa“ gewaschen. Dafür setzt Susi Weber auf drollig höfische Anleihen mit schrill modernen Aspekten. Auf sehr viel Orden, sehr viel Schminke, auf zeitgenössische Querverweise genauso wie Matrosen Zunft. Hoch lebe das Absurde.
And the answer my friend, is sailing on the sea
Die SchauspielerInnen spiegeln das Absurde im Wesen ihrer Charaktere. Antony Connor ist ein wunderbar eingebildeter, unverantwortlicher Kapitän, der seine bisherige Zeit mit dem Flanieren durch adelige Salons verbrachte, aber ganz sicher noch nie ein Schiff befehligt hat. Seine Kapitänsbestellung entpuppt sich als kapitaler Fehler, der ohne Rückgrat in den Untergang (und beim Schiffsoberhaupt zu Verstopfung) führt. Als falscher Freund und eitler Einflüsterer lässt Marcus Marottes Richeford keine Intrige aus und setzt selbstbewusst auf seine alternativen Wahrheiten. Gelungen die Auspeitschung des Matrosen. Eine sehr bildliche ungustiöse Szene im Original, die sich so schwerlich auf der Bühne umsetzen ließe, ohne beim Einlass Riechsalz zu verteilen. Die theatrale Alternative gefällt: schaurig und doch ganz ohne Verlust von Körpersäften oder Gliedmaßen (Licht: Marcel Busá).
Diskurs anregend
Hand aufs Herz, Reynaud (Maximilian Thienen) könnte auch gegen eine Mauer sprechen. Der Kapitän ignoriert sein kassandrahaftes Gebrüll beharrlich; man mag es ihm nicht gänzlich verübeln, schließlich oszilliert auch Reynaud bisweilen zur Karikatur ohne großen Intellekt, den er dafür mit tatsächlich vorhandenem nautischen Erfahrungsschatz kompensiert. Der hilft ihm nur leider wenig: Die Anstiftung zum Putsch wurde exaltiert und in den Fokus gerückt, was eminent verzweifelte Momente produziert.
Familie Schmalz (Olaf Salzer, Susanne Wende, Magdalena Oettl) hingegen sind eine köstliche Gouverneurs-Mischpoke. Olaf Salzer und Susanne Wende ergehen sich dafür in spöttischen Kommentaren, Interjektionen und despektierlichem Gemurmel über die niedrigen Mitreisenden und setzen dem Hohn beim Gelage auf den Rettungsboten die Krone auf. Herzhaft beißt der geckenhafte Gouverneur in sein Würstchen und tunkt es emsig in Ketchup, während zugleich ein bemitleidenswerter Floßgenosse sein Bein verliert – ebenfalls mit Ketchup serviert. (An dieser Stelle bitte eine Gedenkminute für diejenige, die im Anschluss die Sauerei auf der Bühne entfernen dürfen). Tochter Arétée hat sich dank Magdalena Oettl indes längst in einen weiteren Matrosen verwandelt. Als Griffon du Bellay stachelt sie in vernünftiger Manier zum Konsum von Menschenfleisch an. Die Rede ist eine der wenigen explizit moralisch-philosophischen Sentenzen.
Alternatives Ende für „Das Floss der Medusa“
Die andere Seite der moralischen Münze heißt Sauvigny. Auch wenn der Aspekt des zwielichtigen Arztes, der an Toten experimentiert, in der Inszenierung nicht von Belang ist, als Stimme der Vernunft macht sich Theo Helms Sauvigny recht passabel. Dafür setzt Isabel Graf (Ausstattung) auf kunstaffines Outfit, inklusive schwarz gerahmter Brille. Lang leben die Klischees, die im Theater voll ausgekostet werden dürfen.
Stark verkürzt hingegen Viktors Rolle. Jakob Kücher als ambitionierter Neo-Matrose, der super motiviert an den Start geht, an Bord bereits die harte Realität kennenlernt und am Ende dann auch noch vorzeitig über die Planke muss. Das Happy End bleibt im Roman. Dafür fällt Hosea Thomas (Jannik Görger) durch seinen verdrehten Satzduktus und unaufgeregte Betütelung Viktors auf und erhält ebenfalls ein neues Fatum. Das ist zumindest tröstlich, weil offen.
Wolfgang Kandler darf als Pfaffe Maiwetter andächtig auf der Bühne sitzen und salbungsvoll den Rosenkranz durch die Finger gleiten lassen. Dass just Maiwetter zur Schiffstaufe gebeten wird, scheint makaber, dass blaues Blut aus seinem Mund quillt, nachvollziehbar in dieser Absage an den Adel. Inbrünstig hofft Kandler später als Coudein auf ein Jenseits ohne Warteraum, wo bereits der berüchtigte Davy Jones lauern könnte.
Hallo Echo, Ech, Ec, E, …
Political Correctness ist in einer Gesellschaft im Woke-Wahn ja so eine Sache. Charmant umgeht Susi Weber das Problem von einer plötzlich erbleichten Marie-Zaïde mit einer blonden Rasta-Perücke. Schauspielerin Christiane Warnecke geht als Rastafari so richtig in die Vollen und lebt die heidnische Taufe an Bord. Gleichzeitig könnte sie selbst zum Sinnbild der Medusa werden, zur ungehörten Seele des Schiffs, die mit wilden Locken vergeblich warnt. Das wird akustisch von Wolfi Rainer begleitet. Die museale Reise ist zu Ende, als Savigny sich weigert, zu vergessen und zu schweigen. Dann ist auch das große Gemälde von Théodor Géricault sichtbar, das tatsächlich im Louvre hängt und 1819 die Geschichte der Medusa in die Welt hinausposaunte. Tja, das haben sich Hugues Duroy de Chaumareys, Richeford und Co in den wenigen Rettungsboten dann vermutlich wohl doch etwas anders vorgestellt…
Fotonachweis: Jan Friese
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