Petri Heil in der Tiefgarage: „Glück“ premierte an der ARGEkultur
Sechs Personen steht das Wasser buchstäblich bis zum Hals: Gerda Gratzer inszenierte Kateřina Černás GLÜCK. Ein tragisch-komisches Theaterstück voller existenzieller Fragen – und der einen oder anderen Antwort.
Mehrere Menschen sterben bei dem Versuch, ihr Auto aus einer überfluteten Tiefgarage zu retten. Was sich auf den ersten Blick ziemlich surreal und tragisch-komisch anlässt, fand tatsächlich statt. 2015 in Südfrankreich. Die junge tschechisch-österreichische Autorin Kateřina Černá schrieb ein Stück dazu, GLÜCK. Gerda Gratzer inszenierte diesen existentiellen Reigen an der ARGEkultur (Bühne: Alois Ellmauer, Licht: Gunther Seiser). Gemeinsam mit dem Ensemble des Theater der Freien Elemente versucht sie zu ergründen: wie, warum und auf welche Weise eigentlich.
Großer Bruder & musikalischer Gleichklang
GLÜCK erinnert an Samuel Beckett. Alois Ellmauer (Bühne) greift diesen Hang auf und komplettiert das voluminös schiefe Setting um entsprechende Elemente. Wunderbar die Metaphorik der Bühne, die das Aus-dem-Ruder-Laufen der Leben der Protagonisten sinnbildlich widerspiegelt und zugleich Auffangbecken für den Untergang darstellt. Es dominiert Becketts Endzeitstimmung aus ENDSPIEL, wenn bereits zu Beginn zwei Köpfe aus der Bühne emporschnellen wie Springteufel aus der Schachtel. Nagg und Nell, seid ihr es? Tatsächlich ähneln die Auftritte Elaines (Judith Brandstätter) und Roberts (Wolfgang Kandler) denen von Hamm Eltern, die bei einem Unfall beide Beine verloren und in zwei Mülltonnen hausen.
Im tonalem Gleichklang kabbeln sich Elaine und Robert und wärmen alten Müll auf – eine Analogie zur Mülltonne. Hier giftet und stichelt ein vertrautes und zugleich frustriertes Paar mit einigen Jahren auf dem ehelichen Buckel. Formaffin und sprachverliebt jonglieren Judith Brandstätter und Wolfgang Kandler mit Worten. Immer wieder repetieren sie fast schon zwanghaft Substantive, lassen Verben Salti schlagen. Die Dialoge scheinen auf den ersten Blick sinnbefreit, erweisen sich bei näherem Hinhören allerdings als erstaunlich kohärent. Gleichzeitig wohnt ihnen eine immanente Musikalität inne, die einmal mehr über das Potential von Sprache Staunen lässt. Das spiegelt sich auch in der Semantik. Hier liegt die nächste Parallele zum großen Schriftsteller: Während Robert an akuter Verniedlichung laboriert und allem ein Diminutiv anhängt, ruft ihn Elaine – oder eben Elainchen – wiederholt zur Räson. Mit mäßigem Erfolg.
Je weiter der Abend voranschreitet, desto öfter spricht er vom gemeinsamen „Paulchen“ und damit in Rätseln. Denn Paulchen gibt es laut Elaine seit zehn Jahren nicht mehr. Robert wird später selbst äußern, das Paulchen niemals jemand gesehen habe. Trotzdem geht er danach regelmäßig auf Stöckchen-Jagd. Vielleicht ein Sternenkind und damit einmal mehr Nähe zu Hamm? Andernfalls vermutlich ein Haustier oder auch einfach nur die Imagination des Verzweifelten in seinen letzten Zügen. Dieses Stück lässt ausreichend Raum für eigene Interpretationen.
Über die Notwendigkeit der Würde
Die Antwortet lautet 42. Auf alles. Zumindest im „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“. Im Fall von GLÜCK lautet das Zauberwort allerdings „Würde“. Ein berühmter Hirnforscher erklärte neulich im Interview, dass wir in einer sehr würdelosen Zeit leben. Es gehe eigentlich gar nicht mehr würdeloser. Wer sich fragt, warum: Weil wir uns im Objektstatus befinden. Das prädestiniert uns zur idealen Beute von Marketingstrategen und Konsumjüngern. Als Objekte benötigen wir andere Objekte, um uns zu definieren. So und nur so ist es zu erklären, dass Menschen in überflutete Tiefgaragen hasten, um ihren wertvollsten Besitz zu retten: die eigene Identität aka ihr Auto.
Ähnlich konditioniert ist Madeleine (Sonja Zobel). Launisch, meistens trotzig und mit sehr vielen „Alter“-Exklamationen rebelliert sie gegen die klügere, eloquentere Schwester und weigert sich, das heiß geliebte Auto im Stich zu lassen. Rotzig die Bewegungen, burschikos und immer in Hab-acht-Stellung die Attitüde. Das tief drinnen auch ein weicher Kern sitzt, lässt sich erahnen, wenn Madeleine gen Ende hin doch weich wird. Die Umarmung verweigert ihr die Schwester trotzdem.
Sakrales Innehalten
Julia Leckners Sophie gibt sich redegewandt und beherrscht. Auch wenn sie Madeleine mit ihrem Geigenspiel quält, die Manieren sitzen. Als sie sich den (warum auch immer) chinesischen Pullover überwirft, verleiht das der Figur etwas Sakrales. Passend dazu tauchen Elaine und Robert wieder auf und vertiefen ihren Dialog zu Paulchen, der plötzlich ins Gebet-artige driftet. Ein fast schon transzendenter Moment in der Tiefgarage und Totenmesse der anderen Art. Madeleines Pendant scheint der Junge Mann (Jurij Diez) zu sein. Zwar weniger zornig, aber mit ebenso prolligem Einschlag beendet er das Gros seiner Sätze mit „Mann“ (oder ist es vice versa?). Ein Möchtegern-Casanova, der selbst bei steigendem Wasserpegel das Anbaggern nicht lassen kann. Das Publikum amüsiert sich köstlich über die trockenen Pointen, die der Junge Mann – nicht eben die hellste Kerze auf der Torte – und andere zum Besten geben.
Das Phantom der Tiefgarage
Spannend auch der geheimnisvolle Dritte (Wolfgang Kandler). Was an eine Mischung aus Harry Lime und Kottan denken lässt – Schlapphut und Trenchcoat sei Dank -, wird schnell zum Phantom der Tiefgarage. Gleich seines Alter Egos aus der Oper setzt dieser Mann auf Maske, die Gummistiefel sind neu. Als Zeremonienmeister des Untergangs sieht und hört der anonyme Mann alles. Er scheint eins mit der Tiefgarage und dann doch wieder erstaunlich verortet im Hier und Jetzt mit latenten Exhibitionismus Einschüben. Sein Ende kommt als kleine Ernüchterung. Das Transzendentale, das ihn umgibt, löst sich unvermutet in Schall und Rauch auf. Der Abgang ist gelungen.
Genauso wie auch der Rest von Gerda Gratzers Regiearbeit. Die Situation in der Tiefgarage spitzt sich merklich zu. Statt naturalistischer Verzweiflung dominiert tragisch-komische Seelenanalyse. Als Sophie auf den geheimnisvollen Mann trifft und mit ihm hinter die Wand verschwindet, die nur durch ein Fenster einsehbar ist, nährt das durch Beichtstuhl und letzte Sakrament Analogien einmal mehr das sakrale Moment. Davor bereits der letzte Tanz, eine Mischung aus Zombie-Apokalypse und hippem Totentanz sowie onomatopoetisch glucksendem Glück.
Still, herrlich unaufgeregt und beinahe besinnlich das Ende – definitiv aber jede Menge Stoff, um über das Sein und den eigenen Status zu reflektieren. Team #subjekt oder #objekt? Es liegt eben doch an jedem Einzelnen. Das Glück ist ein Vogerl, kann sich aber auch im Handumdrehen in einen Fisch verwandeln. Petri Heil in der Tiefgarage.
Fotonachweis: Wolfgang Lienbacher
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