Eine Nicht-Rezension oder Das Alter, Thomas Bernhard und „Im Sitzen läuft es sich besser davon“.
Ich wollte als Einleitung für meine Nicht-Rezension eigentlich über das Alter schreiben. Das Alte Testament beispielsweise nennt als Lebenszeit für seine zehn Urväter beinahe 1000 Jahre. Das ist eine ziemlich lange Existenzspanne, keine Frage. Den Rekord unter den Top 10 hält dabei Methusalem, der mit seinen 969 Lenzen Spitzenreiter in der fidelen biblischen Altherren-Runde ist. Das mag verblüffen, noch mehr allerdings, dass der Sohn des Henoch und Großvater des Noah erst mit 187 Jahren sein erstes Kind zeugte. Gut, biblische Maßstäbe scheinen aus biologischer Sicht vielleicht etwas gewagt. Den exorbitanten alttestamentlichen Angaben liegt also vermutlich eine andere Zeitrechnung und die jüdisch-biblische Tradition der Verehrung des Alters zugrunde. Dann also in der literarischen Geschichte doch lieber nicht ganz so weit ausschweifen. Wie wäre es mit Oscar Wilde und seinem „Bildnis des Dorian Gray“? Dorian Gray, dieser narzisstische Jungspund aus der Oscar Wilde – Welt entsprungen, ist vom Wunsch beseelt, nicht weiter zu altern, sondern ewige Jugend und Schönheit zu genießen. Das hat in der Literatur natürlich seinen Preis. Äußerlich bleibt der unglaublich schöne Dorian ohne Fehl und Tadel, dafür altert sein Porträt umso exzessiver und ungustiöser. Denn Dorians Leben gestaltet sich immer ausschweifender und steht auf moralisch fragwürdigem Grund und Boden. Am Ende besitzen allerdings selbst Dorian Gray und Methusalem ein Ablaufdatum.
Tod und Vergänglichkeit sind Themen, die uns Menschen beschäftigen. Im Schnitt leben wir heute bereits doppelt so lange wie noch vor 100 Jahren. Das ist schön, fordert aber, ähnlich Dorian Grays unvergängliche Jugend, ein gewisses Tribut. Im fortgeschrittenen Alter werden wir deshalb mit Krankheiten konfrontiert, die in diesem Ausmaß und dieser Häufigkeit früher noch nicht auftraten.
Davon wollte ich eigentlich schreiben. Dann fand ich auf dem Weg zur Uraufführung des zum Theatertext umgearbeitetem Erzählband Alois Hotschnigs IM SITZEN LÄUFT ES SICH BESSER DAVON ein Buch. Genau genommen passierte ich gerade eine Brücke, als ich eine Laptoptasche, scheinbar achtlos zur Seite geworfen, auf dem Fahrradwegesrand bemerkte. Darum herum pittoresk verstreut ihr magerer Inhalt inklusive eines Suhrkamp-Taschenbuches, das instinktiv meine Aufmerksamkeit erregte. Lag es am schicken grün der Edition oder am Format des Buches? Ich jedenfalls konnte nicht daran vorbeifahren und es so einfach seinem Schicksal überlassen. Ich musste umkehren. Meinem bibliophilen Gewissen zuliebe. Ich sammelte das Buch also ein und stellte entzückt fest, dass es sich um einen Thomas Bernhard Text handelte. Die Laptop-Tasche beachtete ich erst auf den zweiten Blick; sie war leer. Daneben ein Kugelschreiber, ein großes Stempelkissen und eine einsame Klarsichtfolie. Den Thomas Bernhard Text hielt ich glücklich in Händen. Gerettet. Alles andere wäre auch nicht zu verantworten gewesen.
Und hier liegt der Bogen zu meiner Nicht-Rezension verborgen. Das nämlich wirklich Erstaunliche an meinem Fund:
„Bernhard entwickelt ein herrlich skurriles Ambiente, eine leichte Verbindung aus Heiterkeit und Schwermut, aus letzten Sätzen über Welt- und Lebensläufe, aus lächerlichen Episoden und erhabenem Ernst.“
Der Klappentext von Bernhards Text hätte genauso gut für Alois Hotschnigs IM SITZEN LÄUFT ES SICH BESSER DAVON Pate stehen können. Zufall? Nein! Oder doch? Zumindest nimmt der Klappentext-Klon ein Gros der Geschehnisse auf der Bühne vorweg.
IM SITZEN LÄUFT ES SICH BESSER DAVON in der Inszenierung von Max Claessen am Schauspielhaus Salzburg ist ein skurriler und gleichzeitig in betagten Alltäglichkeiten verhafteter Theaterabend, der den Fokus auf das Altern legt, das Verlieren des eigenen Ichs in Krankheitsbildern wie Demenz, Apathie und ähnlichen Leiden. Das stimmt nachdenklich und regt zu philosophischen Diskursen und Zukunftsdebatten über den eigenen Wandel an. Denn ist nicht jede*r gleichzeitig auch bereits irgendwie Betroffene*r und sei es über noch so viele (oder wenige) Ecken? Zugleich berührt kein Thema so stark wie die eigene Vergänglichkeit. Das scheint dem Narziss in uns geschuldet.
IM SITZEN LÄUFT ES SICH BESSER DAVON ist ein Stück über das fortgeschrittene Lebensalter und beschäftigt sich mit den damit einhergehenden Problemen und Thematiken, versinkt aber gleichzeitig keinesfalls in Trostlosigkeit, Altersaggressionen und anderen Aussichtslosigkeiten; die heiteren Details ergeben sich aus profanen Abläufen, die das Potential besitzen, die Aspekte persönlicher Partnerschaften und Beziehungen zu skizzieren, widerzuspiegeln oder vielleicht in manchen Fällen gar vorwegzunehmen. Skurrile Momente entstehen vor allem in späterer Folge, wenn die divergente Charakteransammlung im Sanatorium oder der Ordination der Frau Doktor, einer entrückten, anderen Ebene, ins Rollen gerät und sich ihre eigenen Wege bahnt; komme, was da wolle.
Gleichzeitig birgt der Text eine eigene Musikalität, der immer wieder Ausdruck verliehen wird. Die Sprach-Jonglage von Hotschnig trägt viele Züge, unter anderem auch Bernhard’sche. Es war also doch kein Zufall, dass mir just Bernhard vor die Reifen rollte. Oder die Reifen an Bernhard vorbei. Den Text gilt es zu lesen, möglichst bald. Mit den Literatur affinen Göttern sollte es sich ja keinesfalls verdorben werden. 😉
PS: Sollte sich irgendjemand an dieser Stelle eines verlorenen Thomas Bernhards entsinnen, ich habe ihn in Pflege und gebe ihn bei Anspruch gerne wieder an den*die rechtmäßige*n Besitzer*in zurück.
Fotonachweis: Gregor Hofstätter // Schauspielhaus Salzburg
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