Weltlich-spirituell: die Lange Nacht der Kirchen
Menschenscharen, die spätabends durch die Stadt schlendern und sich von einer Kirche in die nächste treiben lassen – die LANGE NACHT DER KIRCHEN ist zurück und fasziniert 2018 mit farbenfrohem Programm.
Ich muss gestehen, ich brauchte ungefähr 20 Jahre, bis ich hinter den Sinn von „Hevenu Shalom Aleichem“ kam. Das war eines der Lieder, die wir mit Hingabe beim Sternsingen oder im Jungscharkurs sangen. Wobei die Begeisterung nicht unbedingt einer religiösen Leidenschaft entsprang, sondern vielmehr der eingängigen Melodie gezollt war. Es half außerdem, dass das Lied aus nur drei Wörtern bestand, die sich ständig wiederholten. Was sie genau bedeuteten, kümmerte uns wenig. Die Erleuchtung folgte also erst 20 Jahre später, im Hebräisch-Unterricht: הבאנו שלום עליכם. Ich hätte es auch einfacher haben können: Die zweite Strophe wurde auf Deutsch gesungen „wir wollen Frieden für alle“. Das ist mir in meiner kindlichen Unbekümmertheit offensichtlich entgangen.
„Shalom“, der Frieden, das ist auch die Devise der diesjährigen LANGEN NACHT DER KIRCHE. Um den zu erreichen, darf es auch gerne das gewisse Völkerverständigungs-Etwas mehr sein; in diesem Fall Musik. Keine Angst, der ökumenische Arbeitskreis packte nicht den hebräischen Shalom-Klassiker aus (wer ihn trotzdem hören möchte, klickt hier – oder auf die lange Elektro-Variante der israelischen Konkurrenz). Stattdessen setzte man auf das berühmte „Stille Nacht“-Lied – der Welthit aus Original-Salzburger-Musikschmiede feiert schließlich heuer seinen 200sten Geburtstag! Ein wunderbarer Anlass, um die prominente Friedensbotschaft in der LANGEN NACHT DER KIRCHEN aufzugreifen und auf kreative Weise zu interpretieren.
Time-Management
Bei der LANGEN NACHT DER KIRCHEN ist Zeit Mangelware, deshalb lautete wie jedes Jahr die Devise: Prioritäten setzen. Für Wort- und Musikverliebte war die Kollegienkirche die optimale Anlaufstelle. Auch wenn ich die JUDAS-Produktion des Grazer Schauspielhauses leider versäumen musste, die wunderbaren Lichtinstallationen entschädigten zumindest ein wenig. Sie leuchteten die ganze NACHT und sorgten gemeinsam mit der Leinwand auf der Bühne für eine spannende Symbiose. Dahinter steckte nicht nur der DJ am Mischpult, sondern auch Bands wie Amy Wald oder Poetry-Slammer Lukas Wagner, die zu Schattenfiguren oszillierten. Apropos, dieses Spiel aus Licht und Schatten war für alle eine ungewöhnliche Situation: Lukas Wagner setzte bei seinem wortintensiven Auftritt auf deutlich mehr Gestik. Vielleicht trog der Schein aber auch einfach nur und das Zuschauerauge reagierte aufgrund der Reduktion sensibler auf die Feinheiten der einzelnen Performances. Mindestens ebenso spannend war der Auftritt von Amy Wald – die staunte hinter der weißen Wand über das eigene Gefühl, das Publikum nicht sehen zu können, und erntete dafür spontanen Applaus. Aber nicht nur die Konturen der Sängerin verschwammen; dank der Klangverzögerung von 12 Sekunden hallten auch die Lyrics nach und verstärkten die besondere Atmosphäre. Tag und Nacht, Schatten und Licht, schwarz und weiß, das beherrschten auch die Tänzer*innen des SHADOWDANCE FOR FREEDOM. Hinter der Leinwand war vor der Leinwand – peu à peu eroberten sie die Bühne mit spirituellen Tanzimprovisationen für Frieden und Freiheit zu elektronischen Klangskulpturen (Ana Bleda Torres, Joan Aguila Cuevas, Michaela Kadlcikova, Stefano De Luca, Tristan Bénon, Keyboards: Johannes Wiedecke).
Glanz und Gloria
Um Punkt 22 Uhr gingen in den Dom-Türmen plötzlich die Lichter an und in allen Kirchen wurde das Friedensgebet angestimmt. Shalom einmal mehr, bevor im Dom wieder eine Reminiszenz von „Stille Nacht“ erklang; selbstverständlich von wunderbaren Licht-Impressionen begleitet. Lichter, die konnte auch das gleichnamige Labyrinth im Wallistrakt. Tatsächlich wurde im Innenhof ein Irrgarten aus lauter kleinen Teelichtern gelegt – LED, so viel Modernität muss sein. Vermutlich war das genau die richtige Entscheidung: Tatsächlich stolperten immer wieder allzu eifrige Besucher*innen über Teile der Dekoration. Wer wollte konnte übrigens per QR-Code eine eigene Klangreise durch den Lichterwald unternehmen. Obwohl die meisten darauf verzichteten, widerstand (fast) niemand der Verlockung des beleuchteten Weges. Der sah zwar kompakt aus, wurde mysteriöserweise aber immer länger und länger. In der Mitte belohnten Klangschalen die nächtliche Unternehmungslust, ehe der Rückweg angetreten wurde. Trotzdem schien es kaum jemand zu wagen, einfach so aus dem Lichter-Labyrinth herauszutreten. Sind wir nicht alle wunderbar konditioniert…?! 😉
Musikalisches Potpourri
Volksmusik mit modernen Anleihen prägt den musikalischen Stil der SALZBURGER NOCKERLN. Die spielten zum entspannten Beisammensein im Hof von St. Peter auf. Ein passendes Setting, das durch Speisen und Trank noch gemütlicher wurde. Ein ganz anderes Genre zelebrierten hingegen die Mozarteumstudenten der Klavierklasse von Prof. Claudius Tansik in der Michaelskirche. Zugegeben, ich kannte das ehrwürdige Haus (die älteste bis heute bestehende Kirche in Salzburg!) noch nicht, aber das ist ja dieser angenehme Nebeneffekt der LANGEN NACHT DER KIRCHEN, die an völlig neue Orte führt – selbst Einheimische. Abgesehen davon, dass die Michaelskirche wirklich eine großartige Atmosphäre besitzt, belebten die Studenten den Raum mit so intensiven Tönen, dass im Nu Konzertsaal-Stimmung entstand. Ob da schon die Zukunft der Salzburger Klassik-Szene sitzt? Vermutlich! Und obendrein kreierten sie einen wunderbaren Abschluss für einen großartig weltlichen Musik- und Kunstabend. Wer behauptet da noch, dass Kirche gestrig sei?!
Fotonachweis: Ich.
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