Das OFF Theater Salzburg auf Andy Warhols Pixel-Kurs
Error im menschlichen Algorithmus und die Welt gerät aus den Fugen: Mit der Uraufführung von Stephan Lacks PIXEL inszenierte Alex Linse einen invertierten Thriller-Reigen. Spannend – sehr sogar.
Das OFFtheater hat Feuer gefangen, für Uraufführungen. Kaum die letzte abgespielt, steht bereits die nächste im Raum. Und wieder hat das kreative Team den richtigen Riecher bewiesen: Mit Stephan Lacks PIXEL-Stoff schließt sich der Aufführungsreigen der ersten Spielzeit am eigenen Haus und hinterlässt einen intensiven, nachdrücklichen Eindruck (Regie: Alex Linse, Ausstattung: Ensemble, Maske: Andrea Linse, Technik: Silke Stein).
In wirklich aller, aller Plot-Kürze
Ein Kind ist verschwunden. Das Geschehen fokussiert sich auf sechs Personen, die zum kriminalistischen Figuren-Reigen antreten. Das ‚wie‘ oder ‚was‘ spielt dabei keine Rolle, das Inszenierungs-Auge stellt sich lieber auf das Innere scharf.
Say ‚cheese‘
Die TheaterOFFensive hat Verstärkung erhalten. Mit aufgestocktem Ensemble kreierte Alex Linse einen extrem fesselnden Thriller mit der Tendenz, das Publikum völlig in seinen Bann zu schlagen. Dreh- und Angelpunkt ist ein Bildpunktfehler in der Grafik; er ist der rote Faden, der sich durch das Geschehen windet, und es umfängt. PIXEL fungiert als Chiffre für das außer Kontrolle geratene Zwischenmenschliche. Der Verlust eines scheinbar nur minimalen Teilchens wirft eingefahrene Rollen, Beziehungen, ja, sogar ganze Lebensentwürfe völlig aus der Bahn. Daraus ergeben sich aufregend spannende Minuten ganz im Zeichen eines defizitären Kameraauges.
Die Kulisse wird kurzerhand zum Fotostudio und das nicht nur wegen des Bühnenbilds. Zwischen den Szenen friert das Ensemble regelmäßig und fotogen zum Standbild ein (warum bei den zahlreichen Blacks niemand stolpert oder gegen Requisiten läuft, bleibt allerdings ein Rätsel) – das obligatorische ‚Klick‘-Geräusch darf nicht fehlen – sekundenlange Finsternis genügt für die Szenenwechsel zum nächsten Reigen-Bild. Das ist nämlich auch so eine Eigenheit von PIXEL, es stehen immer nur zwei Schauspieler*innen auf der Bühne. Vergrößerungen des unsichtbaren Kameraauges führen, ganz wie beim pixeligen Vorbild, zu fehlerhaft wirkenden Grafiken: In demaskierenden, retrospektiven Zweierszenen werden menschliche Verkleidungen, Attitüden und Einstellungen dekonstruiert, das Innerste langsam enthüllt, dass es nicht nur für Hobby-Anthropologen ein Fest ist.
Unheimlicher Reigen
Eine ältere verhärmte Frau ganz in Schwarz sitzt im Park und füttert Enten, die sie gar nicht füttert (Klaudia Reichenbacher). Auf die verzweifelte Frau, die sich scheinbar zufällig zur ihr auf die Parkbank setzt, reagiert sie mit barschem Mitgefühl und Indignation, je nach Gefühlsstadium ihres Gegenübers. Anja Clementi schlüpft in die Rolle der obsessiv getriebenen, ohnmächtig hilflosen Mutter. Wie sehr sie leidet, was sie ruhelos herumtreiben lässt, wird erst im Umkehrschluss deutlich, als sich das Geschehen langsam wieder auf Anfang zu bewegt. Überhaupt bieten die sechs Personen auf der Bühne ein spannendes ‚Theatertop‘. Alle Figuren sind lose durch das verschwundene Mädchen verbunden und trotzdem grundverschieden. Stück für Stück entblättert die Inszenierung mit steten Rückwärtsbewegungen ihre Gefühle und Situationen. Da ist zum Beispiel der Vater des Mädchens, Erik, ein Gynäkologe mit Eheproblemen. Max Pfnür mimt den Charakter mit zahlreichen kleinen Ticks, die er körperlich in kleinen Details auslebt. Pedantisch streicht er seine Krawatte glatt, zupft sich an der Hose herum oder schlägt mit dem eheberingten Finger nervös gegen die Bierflasche. Steif und akribisch ist dieser Erik, weiße Fieberblasensalben-Flecken auf den Lippen. Seine Frau wirft ihm in einer expressiven Szene emotionale Kälte vor. Ja, das wird verständlich, wenn Erik beginnt, die Sachen des Kindes zu verschenken oder sich ungelenk seiner polnischen Putzkraft anzunähern. Andererseits hat da ja jeder so seine eigene Art mit der Ungewissheit und Verzweiflung umzugehen.
Die 1980er sind tot, lang leben die 1980er
Jakob (Alex Linse), der Fotograf, ist ein undurchsichtiger Charakter. Die Doppeldeutigkeit, die ihn umgibt, lässt ihn unheimlich und widersprüchlich erscheinen. Aber was ist Sein und was ist Schein? A. Linse spielt genüsslich mit der Ambiguität seiner Figur, die immer wieder den Zuschauer-Fingern entgleitet und sich nicht festhalten lässt. Und dann sind da noch die beiden Frauen: Christiane Warnecke wird zu Ellen, der desillusionierten Ballettlehrerin im sehr pinken Trainings-Outfit – Neonfarben sind an diesem Abend höchst en vogue, was an die Pixel-Art von Andy Warhol denken lässt. Trotzdem scheint sich Ellen einen Rest Glauben an die Menschheit, an ihr Leben bewahrt zu haben. Als Tänzerin, die es nicht so mit Auditions hat, wird sie in den Fall des Mädchens gezogen, ohne es zu ahnen. Daneben die Reinigungskraft (Christine Winter), die sich mit kantigem polnischem Akzent und großem ich-war’s-nicht-Augenaufschlag unschuldig durch das Geschehen schlängelt, und doch mehr zu wissen scheint. Oder auch nicht? Die Zoom-in Methoden der Inszenierung bringen Erstaunliches zutage, der nächste Twist ist nie fern, und trotzdem verrät PIXEL nur wenig.
Popcorn und Cola
Der emotionale Thriller stellt die theatrale Reihenfolge auf den Kopf. Durch das pixelige Gesamtkonzept und großartige Schauspiel auf allen Ebenen entstehen eindrückliche Momente. Das Ergebnis ist eine spannende Betrachtungsweise für das Publikum, das sich einfinden, zurechtfinden und schlussfolgern muss – am besten alles gleichzeitig. Selten war Zeit so relativ und Theater so fesselnd bis zur letzten Szene.
Fotonachweis: Press the Button (Beitragsbild), www.pirart.at (Szenenfotos)
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