Lang lebe der Konjunktiv!
Es ist ein albtraumhaftes Szenario, das Dedi Baron mit TERROR am Landestheater Salzburg inszenierte. Gleichzeitig erhält das Publikum die einmalige Chance, als Schöffe*in das Ende zu beeinflussen: Packend, emotional und garantiert viel Pausen-Diskussionsstoff.
Mit dem Recht ist das so eine Sache. Jede*r meint es zu besitzen, aber niemand kann es wirklich für sich beanspruchen. Denn Recht ist nicht gleich Recht. Seit der Antike arbeiten sich Philosophen bereits an der Thematik ab und kein Ende scheint in Sicht. Im Gegenteil, Gerechtigkeit entpuppt sich als Fass ohne Boden. Schließlich sorgt kodifiziertes Recht nicht automatisch für Gerechtigkeit. Was ist mit der Verpflichtung zum moralischen Recht? Eine der bekanntesten literarischen Figuren, die davon ein Lied singen kann, ist Michael Kohlhaas. In Kleists gleichnamiger Novelle zerbricht sie am allgemeinen Rechtsverständnis. Starr hält Kohlhaas an der Moral fest, opfert Familie und Besitz und kämpft für seine Gerechtigkeit, auch wenn das positive Recht gegen ihn spricht. Held oder Täter?
Ferdinand von Schirach verarbeitet mit seinem Theatererstling TERROR die eigene Berufung zu Bühnenstoff. Der Anwalt und Strafverteidiger, der bereits als Schrifsteller in Erscheinung trat, geht auf Konfrontationskurs. Die Gerechtigkeitsdebatte ist im Hier und Jetzt angekommen. Eine Maschine mit 164 Passagieren wurde von einem Terroristen entführt und nimmt Kurs auf die Allianz-Arena in München. Dort befinden sich zu dem Zeitpunkt gerade 70.000 Menschen – der Anfang einer Katastrophe? Zum Zusammenstoß wird es nicht kommen. Zwei Kampfjets flankieren bereits den entführten Airbus. Der Befehl lautet vom Kurs abbringen. Als das nicht gelingt, setzt sich ein Major über das Kommando seines Vorgesetzten hinweg und schießt auf das Passagier-Flugzeug. Die Maschine stürzt ab und alle 164 Insassen kommen dabei um ihr Leben. 164 Menschenleben gegen 70.000. Ist der Pilot schuldig oder nicht schuldig?
Bei TERROR wird die Bühne zum Gerichtssaal und das Publikum zu Schöffen (Regie: Dedi Baron, Bühne und Kostüme: Eva Musil, Dramaturgie: Friederike Bernau). Für Salzburg inszenierte Regisseurin Dedi Baron das zeitgenössische Spiel, das nicht zufällig Parallelen zum Terror-Anschlag am 11. September 2001 zieht. TERROR zielt bewusst auf diese neue Angst, die in den Köpfen vieler zu sitzen scheint. Könnte es sein, dass wir in Zukunft öfters mit solchen Anschlägen konfrontiert werden? TERROR spielt das Szenario vorsichtshalber bereits durch; es ist ein Plädoyer auf die uralte Gerechtigkeits-Debatte mit divergierendem Ende. Das entscheidet tatsächlich das Publikum.
„Erheben Sie sich bitte!“
E. Musil reduzierte das Bühnenbild auf das Essentielle. Puristisch naturalistisches Mobiliar und Kostüme lenken eben nicht vom eigentlichen Geschehen D. Barons Inszenierung ab. Den emotionalen Mehrwert heizt in Salzburg das versierte Schauspiel-Ensemble an. Mit fester, autoritärer Stimme mimt Christoph Wieschke absolut überzeugend den Rechtssprecher. Als forscher Richter fordert er alle Anwesenden auf, sich zu erheben. Erst nach einigen Sekunden sickert durch, dass hier auch das Publikum gemeint sein könnte. Pflichtschuldig erhebt es sich schnell aus seiner bequemen Theaterbestuhlung. Später läuft das Spiel wie von selbst – ein Hauch von Partizipationstheater liegt in der Luft. Der Richter adressiert die Schöffen*innen direkt und erklärt ihnen die Regeln. Alle Besucher*innen haben am Eingang eine Münze erhalten. Nach der Verhandlung sollen sie diese in eine der bereitstehenden Boxen werfen. Schuldig oder nicht schuldig wird live auf der Bühne abgewogen. Ein ziemlich schlaues Verfahren, das Zeit spart. (Stimmzettelchen auszuwerten hätte sicher den halben Abend beansprucht).
Dann füllt sich bereits der Gerichtssaal. Verteidiger Biegler (Sascha Oskar Weis) kontert mit allzu flapsigen Kommentaren. Es ist das alte „mephistophelische“ Rollenschema, das amüsant anmutet und sein Schauspieler perfekt beherrscht. Gleichzeitig stiehlt es der Situation den Ernst. Da trifft es sich, dass die heiter-ironische Note Bieglers spätestens beim Schlussplädoyer beinahe gänzlich verschwunden ist. Stattdessen besticht der Anwalt jetzt mit einer überzeugenden Ansprache an die Schöffen*innen. Staatsanwältin Nelson (souverän Julienne Pfeil) hält selbstverständlich dagegen – übrigens genauso überzeugend. Bemüht sachlich und klug versucht sie die Schöffen*innen für sich einzunehmen. Dafür schwingt die Staatsanwältin als Vertreterin des Konjunktivs große Worte und geizt nicht mit philosophischen Fallbeispielen. Es ist ein kleiner Exkurs durch die Rechtsphilosophie, den sie bietet, farbige Bilder inklusive. Die mögen zwar bisweilen haken, wenn sie konsequent weitergesponnen werden, aber das ist dem Dramatiker aus der juristischen Branche geschuldet.
Die Stärken der anderen und das Kameraauge schaut mit
Lars Koch (Gregor Schleuning) ist still und mutet schüchtern an. Das scheint passend für einen übermäßig begabten und flugerfahrenen Major der Bundeswehr, der gerade des 164fachen Mordes angeklagt wurde. Bemüht sachlich gibt er beherrscht Auskunft. Motive und Beweggründe? Völlig ohne eigenen Vorteil. Koch ist zur falschen Zeit am falschen Ort und egal welche Entscheidung er im damaligen Moment getroffen hätte, es wäre die falsche gewesen. Koch oszilliert zum Sympathieträger trotz der 164 Passagiere. Richtig emotional wird es bei Nebenklägerin Franziska Meiser (Nikola Rudle). Die Krankenschwester hat bei dem Absturz des Airbusses ihren Mann verloren. Stumm und versteinert sitzt sie während der gesamten Gerichtsverhandlung neben der Staatsanwältin, bis sie endlich an der Reihe ist. Dann eilt sie fahrig und nervös in den Zeugenstand, wo sie mit Tränen in den Augen von ihrem Verlust berichtet. N. Rudles Darstellung der jungen Witwe ist so authentisch, dass in diesem Moment sogar der Konjunktiv in den Hintergrund gerät. Was also, wenn die Passagiere tatsächlich gerade noch rechtzeitig die Tür zum Cockpit hätten aufbrechen können?
Es sind die Nebendarsteller, die bei TERROR in den Fokus rücken; das inkludiert selbstverständlich oder gerade auch Christian Lauterbach (Georg Clementi). Als Vertreter der Zeugen wird er in den Gerichtssaal gerufen. Auf dem Platz vor dem Richter sitzt ein einfach denkender Bundeswehrbediensteter, der prinzipientreu keine Regeln hinterfragt. G. Clementi lässt Lauterbachs Emotionen wie einen separaten Film im eigenen Mienenspiel Revue passieren. Das akzentuiert seinen Auftritt und wird durch das Kameraauge hinter dem Richterstuhl auf eine große Leinwand projiziert. Der szenische Effekt ist beachtlich. Überhaupt sorgt D. Barons Inszenierung gerade durch ihre medialen Möglichkeiten für spannende Momente. Die Gesichter der im Zeugenstand Sitzenden werden stets in überdimensionaler Frontal-Ansicht auf die Leinwand geworfen. Auch die hinteren Ränge sind live dabei.
Die 2h30 TERROR gestalten sich extrem kurzweilig. Das liegt vermutlich daran, dass persistent die Frage im Raum schwebt, ob moralisches Recht das kodifizierende außer Kraft setzen darf? Nelson verneint, immerhin lebe Demokratie von diesen Prinzipien und basiere nicht auf dem Naturrecht. Doch was geschieht eigentlich, wenn sich diese Werte als falsch entpuppen? Man denke an faschistoide oder kommunistische Systeme, wo Unrecht zu Recht wird und die, die gegen das Unrecht aufbegehren, gegen bestehendes Recht verstoßen. Schon alleine aus diesen Gründen wird es in den Pausen nicht langweilig werden. Angeregte Unterhaltungen von allen Seiten. Schließlich die Urteilsverkündigung. Die lautet am Premieren-Abend nach einer nicht unbedingt geheimen Wahl „nicht schuldig“. Lars Koch wird freigesprochen. Jetzt reizt allerdings das andere Ende – wie wohl „schuldig“ ausgefallen wäre? Das weiß bisher nur Japan, wo bei vier Vorstellung viermal für schuldig plädiert wurde.
Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger // Salzburger Landestheater
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Beide Versionen vom Ende sah auch das Testpublikum bei der Generalprobe im Landestheater. Die beiden Ergebnisse wurden vertauscht und ähnlich wie bei der Oscar Verleihung gab es eine neuerliche Aufnahme dieser szene und so hörten wir beide Plädoyers hintereinander. Genial!
Das nenne ich mal eine glückliche Vertauschung (für die ganz sicher niemand gefeuert wurde). 😉 Aber was mich nun wirklich brennend interessiert: Wie ging schuldig aus?! 🙂