Beam me up, Daniel.
Till ist zurück. Die berühmte Schwankfigur aus dem Mittelalter erobert als TYLL neue Epochen. Vom Dreißigjährigen Krieg bis ins Jetzt: Ein maliziös-ironisches und heiter-melancholisches Revival am Schauspielhaus Salzburg.
Eine vom Dreißigjährigen Krieg gebeutelte Dorfgemeinschaft läuft auf dem Platz zusammen und ruft so staunend wie müde „Tyll ist hier!“, „Tyll ist gekommen!“ – ehe das bisher verschonte Fleckchen Erde ebenfalls Opfer wird. Zuerst das von Tylls Narreteien, dann das des Krieges. Bleibt nur noch das Staunen, denn die nunmehr toten Bürger können es einfach nicht lassen. Ganz in Grau stehen sie erstarrt auf dem Platz, schauen dem keck davon eilenden und so erstaunlich lebendigen Tyll hinterher, während sie die letzten Spiegelbilder ihrer selbst wie Narziss im Wasser und zu Land erheischen suchen. Gegen das Vergessen.
Till Eulenspiegel ist tatsächlich zurück. Als Tyll wurde die wohl berühmteste Gaukler-Figur aus dem Mittelniederdeutschen von Daniel Kehlmann für seinen Historienroman auf die Reise geschickt. Ab ins 17. Jahrhundert, dort warten Narren und Krieg. Historische Figuren erleben Fiktives, fiktive Figuren Historisches und bilden eine Brücke in die Moderne. Beste Voraussetzungen für einen notorischen Spaßmacher mit Hang zu zynischen Streichen, besonders wenn sie in so melancholisch-reduziertem Setting wie der Inszenierung am Schauspielhaus Salzburg daherkommen (Regie: Maya Fanke, Dramaturgie: Tabea Baumann). – Dafür wird großzügig über die Tatsache hinweggesehen, dass es sich bei TYLL um die Dramatisierung eines Historienromans handelt. Historienroman? Ein Schelm, wer da nicht an „Die Wanderhure“ denkt… (die allerdings noch nicht dramatisiert wurde 😉 ).
In aller Plot-Kürze
Der Vater von Tyll Ulenspiegel, eigentlich Müller und Hobby-Heiler, wird als Hexer zum Tode verurteilt. Tyll flieht gemeinsam mit dem Bäckermädchen Nele aus dem Dorf und taucht voller Elan in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges ein. Die beiden schließen sich dem fahrenden Volk an und lernen die Künste der Zunft. Währenddessen reist der entmachtete Winterkönig Richtung schwedischer Monarch, um mit dessen Hilfe endlich seine Ansprüche geltend machen zu können. Tyll wird über die Jahre zum promovierten Spaßmacher und ist landauf, landab für seine Streiche bekannt, während der Krieg immer größere Kreise zieht.
Topografie des Krieges
Ein stark reduziertes Bühnenbild, graue Wand auf rotem Untergrund, beschwört die düstere, in Blut getränkte Atmosphäre des Dreißigjährigen Krieges (Ausstattung: Agnes Hamvas, Licht: Marcel Busá, Maske: Gabriele Leitner). Die Verzweiflung und Melancholie spiegeln sich in Farbe und Ton. Die Kulisse als eine Topografie des Grauens, die das Unaussprechliche subtil thematisiert. Statt auf Gebrüll und Kriegsgräuel setzt TYLL auf Stille und Reduktion. Sanfte Musikklänge begleiten das Geschehen. Selten erhebt jemand seine Stimme. Falls doch, dann wummert die Musik aus den Lautsprechern und zucken die Lichtblitze, dass Epileptiker lieber die Augen schließen sollten. Dann würden sie allerdings die Soldaten verpassen, die sich in homogener Gruppenmanier an die Gurgel zu gehen drohen – Gewalt ohne tatsächliche Gewalt.
Erzähler-Kollektiv
Diese Drosselung ist ganz in Manier des Romans. Dort werden die am Rande erwähnten Kriegsgräuel ebenfalls nur Schriftsteller Martin von Wolkenstein zugeordnet (nicht verwandt oder verschwägert mit Oswald). Die als Dicke Graf verspottete Figur, zieht auf der Suche nach Tyll durch die Lande und betreibt ganz nebenbei historische Inventur. Fasziniert kneift Marcus Marottes Martin die Augen zusammen und verpasst im Staunen gefangen sogar den Verlust des eigenen Fingers. Diesem unzuverlässigen Erzähler steht der „Wir“-Erzähler aus der literarischen Vorlage gegenüber. Susanne Wende als eine Art Hermaphrodit jeder Zuordnung enthoben, immer mitten im Geschehen – die Karla Kolumna des TYLL oder die kommentierende Stimme von Volk und Plot. Dieses Volk ergreift nach der Eingangsszene und Tylls Begrüßung selbst das Wort. In einfacher, nicht historisch verschnörkelter Sprache treten die Protagonisten aus sich heraus und rekapitulieren Vergangenes oder Künftiges. Ein schlüssiger Zug, der dem Publikum das Verständnis erleichtert.
Kommen Sie näher, treten Sie ein!
In den Gruppenszenen steckt viel Liebe zum Detail und noch mehr Klamauk. So oszilliert die Dorfgesellschaft zum Zirkus; kunstvoll werden die einen auf den Schultern der anderen balanciert oder erklimmen Oberschenkel, um als Akrobaten noch mehr vom bereits legendären Gaukler zu erhaschen. Präzise arrangiert die Streitszene, als sich die Gemeinschaft sprichwörtlich in die Haare gerät. Hier wird gezogen, dort gerissen, dass eine Gruppentherapie sinnvoll erscheinen würde – und das Volk an seine historischen Wurzeln verwiesen wird. Die Affinität zu Nuancen zeigt sich auch an den Figuren; manche schreiten auf penible, immer gleiche Weise, mit den immer gleichen Ticks, den immer gleichen Weg (gelungen Christopher Schulzer & Wolfgang Kandler), andere toben in kindlichem Übermut über die Bühne (dito Kristina Kahlert & Simon Jaritz-Rudle). Dass da freilich bereits etwas im Argen liegt, ist an den stoisch-dumpfen Blicken der einen und dem bitterbösen Schabernack der anderen zu konstatieren – inklusive eines ungelösten Eselmords.
Moralische Werte
Das Faszinierende an TYLL ist, dass sich das Spiel ständig in der Schwebe befindet. Auch die Inszenierung orientiert sich an diesem leichtfüßigen Zustand zwischen Magie und Materialismus, Wissenschaft und Aberglaube. Die Wissenschaftler werden in komödiantischer Form vorgeführt. Gleich zu Beginn leiten der junge Athanasius Kircher (Johannes Hoffmann) und sein Jesuiten-Freund Oswald Tesimond (Wolfgang Kandler) einen Hexenprozess ein. Die beiden Hexenjäger tasten sich in so verschlagener Manier und Intonation an den Müller (Olaf Salzer mit niederdeutschem Akzent) heran, dass das nichts Gutes verheißen kann. Mit sanfter Stimme und lauernden Blicken locken sie das willige Opferlamm fort. Um es dann mittels eines unter Folter abgerungenen Geständnisses zu verurteilen.
Rührend um das eigene Seelenheil besorgt: Bülent Özdil als labiler Henker Tillmann, der dem zum Tode geweihten Müller auf makabre und gleichzeitig sympathisch treuherzige Weise Trost spendet. Genau weil aber die Argumente auf zeitgenössischer Ebene haken, führen sie zu viel Amüsement. Wenn also Wolfgang Kandler seinen wunderbar maliziösen Tesimond an spontaner Demenz laborieren lässt, indem der Figur die einfachsten Wörter entfallen, bleibt kein Auge trocken. Ebenfalls humorig: Olaf Salzers Claus Ulenspiegel, der sympathisch verpeilt immer wieder seine philosophische Frage nach den Getreidekörnern stellt, selbst kurz vor der Vollstreckung des eigenen Todesurteils (die Antwort wäre so einfach: 42!). Ähnlich schön entrückt, Paul Fleming (Christopher Schulzer), ein Barockschrifsteller mit neuer Mission.
Rule Britannia
Die Herrschenden sind in TYLL keine Helden, sondern schonungslos Deklassierte – Narren haben das Volk in den Krieg geführt, Narren versuchen jetzt ihre Ansprüche geltend zu machen. Ja, das erinnert nicht von ungefähr an die aktuelle politische Situation. Wobei der Fokus im Salzburger Schauspielhaus auf der Häme und dem Grotesken liegt. Als paradigmatische Steilvorlage dienen der Winterkönig Friedrich V. (Johannes Hoffmann) und Elisabeth Stuart (Christiane Warnecke).
Tatsächlich erinnert die Darstellung der Figuren an König Gunther und Brünhild aus dem „Nibelungenlied“. Johannes Hoffmanns Friedrich V. gibt sich mindestens so unbeholfen wie das Burgunder-Oberhaupt. Schonungslos überzeichnet kniet er vor seiner Frau und bettelt slapstickartig um den Vollzug des ehelichen Rechts. Und Elisabeth Stuart (sehr gelungen Christiane Warnecke)? Die wird in TYLL zu flapsig abgekürzten Liz. Ironie und unbedingter Machtwille sind ihr Movens – das mag ja noch durchaus seriös anmuten. Dass die Engländerin das alles aber nur betreibt, um ihre Theater-Obsession zu befriedigen, ist ein weiteres Gaudium, das die Figur mit jeder Menge Schalk im Blick ad absurdum führt. In die gleiche überzeichnete Ironie-Kerbe schlägt auch Elisabeths Vater, Jakob I (Olaf Salzer als überdrehter Brite). Schwarzer Humor, so weit ihre Dialoge reichen.
Das Leben ist kein Ponyhof
Apropos Schalk! Die Besetzung scheint mit Simon Jaritz-Rudle ideal besetzt. Diabolischer Humor dient dem Gesell mit dem Hang zu üblen Scherzen als Antrieb. Hyperaktiv, nimmer müde springt und tanzt er als bunter Faden durch das Geschehen. Nicht immer kohärent, aber wann hält sich Kehlmann schon an die historische Chronologie? Tyll lässt sich keine mutwillige Pointe zum Schaden anderer entgehen und springt mit Anlauf hinein. Ein Gaukler, der der Zeit enthoben und im mittelalterlichen Gestern genauso beheimatet ist wie im zeitgenössischen Jetzt. Bäckertochter Nele (immer souverän: Kristina Kahlert) weicht Tyll dabei kaum von der Seite und gibt sich mindestens so maliziös veranlagt, wenngleich bei beiden auch noch andere, sanfte Seiten aufblitzen dürfen. Das nimmt dem Schrecken ein wenig die Kanten und zeigt, dass sie alle nur Opfer ihrer Zeit sind. In der Retrospektive als Kinder wirken Tyll und Nele wie Hänsel und Gretel, alleine, dass sie vom Weg abkommen wollen. Die Brotkrumen dürfen also getrost stecken bleiben. Statt auf die Hexe treffen sie auf den hämisch aggressiven Spaßmacher Pirmin (Marcus Marotte mit fiesen Gaukler-Fratzen). Ihr Ticket in die Welt des herumziehenden Volkes, selbst wenn es dafür Prügel und Hiebe setzt. Man schreibt schließlich immer noch den Dreißigjährigen Krieg.
Wiedergänger
Den düsteren Aspekt der Kriegswirren akzentuiert Fankes TYLL auch mit der Figurenführung von Gustav Adolf. Markus Wilharm setzt für den Schwedenkönig auf eine Mischung aus rockigem Tunichtgut und größenwahnsinnigen Staatsmann. Die Symbiose ist spannend, kein Auge bleibt trocken. In TYLL fristen die Herrschenden ein böses Los. Jeder liefert genügend Angriffsfläche für Spott und Häme – gerade daraus konstituiert sich aber auch das zeitloses Spiel, das problemlos eine weitere Reise antreten könnte. Und tatsächlich. Tyll weigert sich zu sterben, ist einfach nicht tot zu kriegen. Wie einst Grimmelshausens Simplicissimus, dessen Wege Tyll beschreitet. Was also, wenn er tatsächlich nicht gestorben ist? Ein Wiedergänger, der jederzeit durch das eigene Land, die eigene Stadt vagabundieren könnte. Politische Narren gibt es zuhauf, beste Voraussetzungen also für einen wie den Ulenspiegel. In diese Kerbe zielt auch die Inszenierung, wenn sich der Kreis schließt. Das Volk ist zurück. Blickt immer noch Tyll hinterher und spricht zu sich selbst, dass es noch nicht lange tot sei. Ein starker Abgang mit unbequemen zeitgenössischen Analogien.
Fotonachweis: Jan Friese
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