Es gibt diese Stücke, es gibt jene Stücke – und dann ist da noch „Advocatus Diaboli“. Bülent Özdil versucht mit seiner Inszenierung dem Mythos Charles Manson ein Stück Menschlichkeit zurückzugeben – und haut dafür der Presse ordentlich eins in die, naja, eh schon wissen.
Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit dominiert die ersten Minuten von „Advocatus Diaboli“, ausgelöst von Bildern, die scheinbar stumm über den durchscheinenden Vorhang flimmern. Diese Stille ist trügerisch. Denn hinter dem Starren, dem Schlucken und dem Seufzen auf der Bühne lauert der Abgrund. Und der ist an keine Pizza, sondern an das Böse selbst angelehnt („Advocatus Diaboli“ lat. für Anwalt des Teufels). Große Worte also, denen große Gesten folgen sollen. Dafür ist Bülent Özdil als Regisseur und Autor genau der richtige Mann. In Salzburg war er bis vor Kurzem noch im Ensemble des Schauspielhaus zu sehen und als Schauspieler weiß Özdil ganz genau wie Theater funktioniert. Zwei Jahre recherchierte er zum Fall Charles Manson und stellt mit „Advocatus Diaboli“ den Einfluss der Medien an den Pranger (Produktion: Bülent Özdil & Sarah Maria Kretschmer, Bühne Friedrich Rücker, Pia Jakober, Kostüme Pia Jakober, Bülent Özdil, Musik: Bülent Özdil).
Antichrist Superstar
Been there, done that. Jeder weiß so ungefähr, was es mit Charles Manson auf sich hat. Wenn nicht, eine Eingabe in die Suchmaschine deines Herzens verschafft Abhilfe. „Ach ja, stimmt, Sharon Tate“, sollte spätestens jetzt erklingen. Die Hollywood-Schauspielerin und Verlobte von Roman Polanski erlangte tragische Berühmtheit, als sie hochschwanger von der Manson-Family überfallen und gemeinsam mit vier Freunden grausamst ermordet wurde. Genau das ist auch der springende Punkt bei „Advocatus Diaboli“: von der Manson-Family. Trotzdem avancierte Charles Manson als Auftraggeber zum Antichrist Superstar, zur Personifizierung des Bösen.
Intensive Auseinandersetzung
Bülent Özdil kennt seinen Stoff. Der Inszenierung ist deutlich anzumerken, dass sich der Autor intensivst mit der Thematik auseinandergesetzt haben muss. Und das ist auch nötig, denn für „Advocatus Diaboli“ hebt Özdil die Moral höchstpersönlich in den Prüfstand und schießt sich auf die Presse ein. Die wird von der androgynen Hauptfigur despektierlich „Fresse“ genannt. Warum genau, geht nicht deutlich hervor. Vielleicht, weil die Figur so voller Zorn ist und ihr gerne eins in die selbige geben würde? Vielleicht, weil schon Mephisto der Geist war, der stets verneinte und ja, die Parallelen der beiden, die so gerne provozieren, nicht von der Hand zu weisen sind. Tatsächlich ist Ursula Deuker ein hervorragender Advocatus Diaboli; ein bisschen Jederfrau, ein bisschen Al Pacino, garniert mit Ausdruckstanz und intensiven Publikumsansprachen. Auch wenn die Figur keinesfalls strikt die Unschuld von Manson einfordert, sie weist zumindest hartnäckig darauf hin und legt den Finger imposant und stimmgewaltig in die öffentlichkeitsgierige Wunde.
Charlie says
Zurück zum Anfang. Den macht als Mensch gewordener roter Faden Cassandra Rühmling; ganz in Rot gehüllt, rezitiert sie einen Text, der spontan an Fridays for Future denken lässt. Dass er von Manson stammte, überrascht. Erstaunlich, wie woke der berüchtigte Soziopath auf seine alten Tage geworden war. Am Ende kehrt Rühmlings Figur zurück und zitiert einmal mehr aus besagter Autobiografie, um die Conclusio mit einem großen Bang zu schließen. Dazwischen taucht sie an diversen Stellen wieder auf. Besonders eindrücklich Cassandra Rühmlings Darstellung als Susan Atkins, die Manson-Jüngerin, die den bestialischen Mord an Tate gestand. Schaurig schwärmt die Kunstfigur mit naiver, mädchenhafter Stimme und drolligem Kichern, was für ein orgasmusartiges Erlebnis das gewesen sei. Das Ungeborene habe man ja retten wollen, aber dann sei leider die Zeit zu knapp geworden. Und außerdem, einfach so einen Bauch aufzuschneiden? Da habe man schon Hemmungen. Eine sehr eindrückliche Szene, die unter die Haut geht. Bülent Özdil arbeitet viel mit diesen Widersprüchlichkeiten und garantiert damit bestmögliche Aufmerksamkeit.
Lassen Sie mich durch, ich bin Soziopath
Bei soviel geballter Täter-Power kann der Verteidiger schon bleich aussehen. Tut er aber nicht. Stefan Ried lässt ihn als Stehaufmännchen unerbittlich am Mythos Charles Manson scheitern. In dessen Figur schlüpft Jan Walter und beschert dem Publikum einen schaurig intensiven Abend. Der Schauspieler lässt den manipulativen Charme des Geisteskranken aufleben und verleiht dem Irrsinn menschliche Züge. Immer wieder betont dieser Manson in den unterschiedlichsten Stadien der Frustration, dass er ja eigentlich auch nur ein Mensch sei, einfach nur ein Mensch. Das hat etwas sehr Rührendes an sich und trifft den Kern der Sache. Wenn da nicht auch die aufmerksamkeitsgeile Seite des Soziopathen wäre, der die Öffentlichkeit sucht wie die Motte das Licht. Die Presse wird dabei zum Ritter der traurigen Gestalt, die bereitwillig die Bühne stellt. Zugleich muss und wird das Publikum in die Verantwortung genommen. Aber, und das ist das Paradoxon, genau damit reiht sich auch Bülent Özdils Inszenierung in die lange Reihe der Texte, Bücher, Filme und Musicals (verrückt!) ein, die sich genau um das eine Thema drehen und die Gier nach dem Skandal, dem Bösen weiter befeuern.
Makabere Waage
Dem Massaker der Manson-Sekte setzt der Autor und Regisseur ein anderes gegenüber. Im Zuge des Vietnamkriegs ließen die Amerikaner ein ganzes Dorf ermorden (Mỹ Lai). 405 Menschen plus Haustiere, niemand sollte überleben. Davon spricht zwar kaum noch jemand, während Charles Manson zum Mythos avancierte. Aber lässt sich eine Tragödie gegen eine andere aufwiegen und welche ist grausamer? Hier wird es nicht nur ethisch schwierig. Denn, die Prämisse wird mit Bildern der getöteten Zivilisten von Mỹ Lai untermauert. Auch weniger Zartbesaitete könnten jetzt rufen, „Halt, Stopp, ich möchte aussteigen“. Tatsächlich mutet es grenzwertig an, auch im Namen der Kunst, die Bilder der getöteten Frauen, Kinder, der jungen und alten öffentlich zur Schau zu stellen. Und wenn es schon unabdingbar ist, dann bitte doch tatsächlich mit Vorwarnung. Es sind Bilder wie diese, die sich einbrennen und die bleiben. Jetzt mögen die einen das belächeln, die andern aber eben nicht. Und wie war das nochmals mit der Würde der Opfer und der Pietät. Ist das nicht auch Teil der Moral?
Sag mal, wie hast du’s mit der Moral?
Mit „Advocatus Diaboli“ schuf Bülent Özdil ein akribisch recherchiertes Stück über die Moral und die Verantwortung jedes Einzelnen. Die Produktion ist intensiv und trotz massiver Länge erstaunlich kurzweilig. Gleichzeitig, und das macht richtig Freude, spielt sie mit den unterschiedlichsten sprachlichen Methoden und schöpft aus einem Fundus schier unendlicher Möglichkeiten. Hier wird einmal mehr deutlich, dass der Verfasser über jahrelange Theatererfahrung verfügt, diese bis zum Anschlag auskostet und damit das Theatererleben für die Rezipient:innen intensiviert. Die Bühne begeistert ebenso. Mit Videoprojektionen und verspiegelter Wand sorgt das Setting für Tiefe und wir durch ein hervorragendes Ensemble komplettiert mit großartiger schauspielerischer Bandbreite – zugleich trägt Bülent Özdil ironischerweise just mit seiner kritischen Auseinandersetzung selbst zum Mythos Manson bei. Der dadurch ein Stück weiter ins Rampenlicht rutscht, allerdings in ein neutral reflektiertes und eines, das sich nicht am Pathologischen labt. Und das wiederum ist zu goutieren.
Fotonachweis: Erika Mayer
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