Kafka, kafkaesker, Amerika
Am OFFtheater ist Franz Kafka los: Mit AMERIKA frönt das Gnigler Haus hoch motiviert dem Regietheater und hält trotzdem dem Original die Treue. Sehr gelungen.
Es gibt Dinge, die ich bedauere. Dinge wie, dass ein Tag nur 24 Stunden besitzt, das Schlaraffenland nur ein Mythos ist oder Franz Kafka so einen frühen Abgang hinlegen musste. Tatsächlich nehme ich Letzteres sehr persönlich. Immerhin blieben genau deshalb einige seiner Romane unvollendet und damit auf ewig der Imagination künftiger Lesegenerationen überlassen. Was für ein Schlag für Perfektionisten*innen und Happy-End-Sucker. Das OFFtheater lässt sich davon allerdings nicht beirren und nahm sich gewohnt innovativ einfach Kafkas „Amerika“-Fragment zur Brust.
In aller Plot-Kürze
Karl Rossmann ist 17 und ein ‚gefallener Junge‘, seit er vom Dienstmädchen überrumpelt wurde und sie neun Monate später einen gemeinsamen Sohn zur Welt brachte. Als die Eltern von der Schmach erfahren, verstoßen sie den Sohn und setzen ihn auf ein Schiff nach Amerika. Diese Stelle könnte der Auftakt einer „vom Tellerwäscher zum Millionär“-Geschichte sein, wäre aber dann nicht Kafka. Stattdessen ist sie der Startschuss für einen invertierten Bildungsroman, der seinesgleichen sucht; blauäugig taumelt der Protagonist von einem Fiasko ins nächste und stürzt von der bürgerlichen in die asoziale Welt.
Regietheater
Alex Linse inszenierte AMERIKA als wunderbar surreales Regietheater-Stück, das vor rational-irrationaler Energie strotzt und nebenbei eine Verbeugung an den berühmten Literaten impliziert. Weil sich so ein unvollendeter Roman aber nun mal nicht von selbst in theatrale Form presst, half Max Pfnür (Textfassung) nach; feilte hier, adaptierte dort und sorgte für einen gelungen stringenten Plot. Dabei wurde penibel auf die Form und die allgemeinen Beschaffenheiten geachtet. Die perspektivische Erzähl-Hoheit ruht nach wie vor auf Karl Rossmann, dem Dreh- und Angelpunkt von AMERIKA. Nur selten springt eine Narratorin ein; dann oszilliert Therese aus der Hotel Occidental-Szene zum Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Episoden und zum roten Faden des Stücks. Für diesen Schachzug entkoppelte Max Pfnür die Figur aus ihrer innertextlichen Nebenrollen-Funktion und teilt sie auf andere Parts auf. Therese (Felicitas Biller) wird zu Karls weiblichem Pendant, wenn sie nicht gerade mit dem Chor verschmilzt. Damit das Publikum ihren eigentlichen Part nicht vergisst, bricht sie manchmal mit der Handlung und stellt nüchtern-ironisch fest „hier bin ich wieder“. Die ’neue Therese‘ verändert Kafkas Fragment; plötzlich zeigt sogar Karl (Thomas Hofer), der eigentlich zu keinen positiven Gefühlen fähig ist, Anflüge unbeholfener Leidenschaft, denen sein Schauspieler wohldosiert Ausdruck verleiht.
Sujet-Eldorado
Aus wenig eine ganze Welt zu kreieren, dieser Coup gelingt dem OFFtheater mit AMERIKA vorzüglich. Das Setting bilden mehrere Boxen aus Holz. Ein- und Ausgänge projizieren szenische Dimensionen auf die Bühne und bilden die Basis für den turbulenten Abstieg durch die Neue Welt. Bei Bedarf können die sargähnlichen Verschläge auch gestapelt und der Raum bis in luftige Höhe erklommen werden. Dann baumeln er oder sie halt von der Decke. „Hut ab!“ gilt in diesem Stationendrama aber auch für den gelungen szenischen Querschnitt durch wohlbekannnte und zärtlich gepflegte Kafka-Sujets: Vom obligatorischen Vater-Sohn-Konflikt, zu kapitalistischen Anstalten, Raum-Exzessen und dem Scheitern des unschuldigen Protagonisten.
Einem Setzkasten gleich stehen die Figuren in der Schiffs-Szene aufgereiht und präsentieren sich dem Publikum. Da ist die humorige Mischung aus Käpt’n Iglo und Abrahm Lincoln (Anja Clementi), die mit Senator Jakob (Max Pfnür) Schiffchen versenken spielt, ehe sie von Karl (Thomas Hofer) und dem Heizer (Jonas Zacharias) gestört werden. Wobei Karl engagiert-naiv für die Rechte des pedantischen, aufbrausenden Heizers eintritt. Bis sich der beängstigend aussehende Senator als sein Onkel Jakob outet. Dass Karl bei dieser Gelegenheit nicht stutzt, ist ihm hoch anzurechnen. Wer will schließlich mit einem Cyborg verwandt sein – oder bourgeoiser ausgedrückt, einem Homunkulus?! Und genau hier lässt sich nicht nur ein Faible des Schauspielers für Verunstaltung vermuten, sondern wurde nebenbei auch noch die Technik-Affinität und gleichzeitige Skepsis des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gelungen übertrieben inszeniert (Kostüme und Maske: Andrea Linse). Dass sich die dann optisch an „Doctor Who“ orientiert, freut (ein Hoch auf die Kostüm-Kreativität), selbst wenn diverse Analogien vielleicht nur dem Budget-Zufall gezollt sein sollten. Die entsprechende akustische Untermalung trägt das ihrige zum destruktiv-futuristischen Scifi-Charakter bei (Musik: Alex Linse, Jonas Meyer-Wegener).
Charlie Chaplins Spuren
Im Privathaus von Pollunder (Thomas Pfertner mit großartiger Adipositas) dominiert das Irrationale mit amourösen Subtilitäten. Die unschuldige Klara (Diana Paul köstlich resolut) macht gar Anstalten, sich am armen Karl zu vergehen. Tut sie dann zwar nicht, aber den einen oder anderen Schlag kann sie sich nicht verkneifen. Anja Clementi pirscht sich indes als undurchsichtige Frau Green ganz in Schwarz an den Jungen heran und übergibt ihm abgebrüht den fatalen Brief des Onkels; und ja, Frau Green – schwarz bis in die Seele – genießt ihren diabolischen Part sichtlich.
Karl Rossmann erinnert an einen Simplicius Simplicissimus, der arglos durch die Welt stolpert, gestolpert wird. Gut gelaunt lässt er sich von Delamarche (Max Pfnür jetzt mit französischem Akzent und durchtriebenen Zügen) und Robinson (Jonas Zacharias als einfältiger, irischer Säufer) ausnutzen, ehe ihn sein Schicksal ins Hotel Occidental führt; die kapitalistische Anstalt wird großartig, komplex und Furcht einflößend zum Leben erweckt. Hektisch läuft das Hotel-Personal hin und her und ignoriert den ahnungslosen Neo-Amerikaner. Hier dominieren keine anonymen Instanzen, sondern erhält der Schrecken ein Gesicht – und das heißt Oberportier (Thomas Pfertner von Antipathie beseelt und Schlüsseln behangen). Gleichzeitig erinnern diese und ähnliche Szenen immer wieder an Charlie Chaplin, vermutlich kein Zufall, dafür aber ein kluger Zug. Ganz wie beim großen Humor-Vorbild lässt AMERIKA kein gutes Haar an der Technisierung, im Gegenteil, müssen die Menschen selbst zu Maschinen werden, um der modernen Technik standzuhalten. Besonders humorig, das Sermon des Oberportiers zum Einlernen der Liftjungen. Debil lächelnd, hysterisch schreiend und doch abgebrüht die Regeln brechend, provoziert Giacomo (Max Pfnür), während Karl (Thomas Hofer) zwar ebenso exzessive grinst, aber ehrlich bemüht ist. Als ein sehr betrunkener Robinson (Jonas Zacharias im wunderbaren Rauschzustand) auftaucht und Karl aufgrund einer minimalen Unachtsamkeit den Job kostet, kann der Oberportier endlich seine angestauten Aversionen ausleben. Da helfen dann auch die wohlgesonnene Köchin (Diana Paul – bestens gelaunt) und Therese (Felicitas Biller – sie ist zurück und hängt treuherzig an Karl) nicht mehr.
Epiphanisches Theater
Surreal und Raum, das können auch die Brunelda-Episode und Oklahoma. Brunelda (Diana Paul) fasziniert mit massivem Oberkörper, herrlich hysterischem Schauspiel und der Frage, wie da noch ein zweiter Mime in die Box passen kann? Währenddessen darf Delamarche mit lockiger Irokesen-Pracht auch Karl sein diabolisches Gesicht offenbaren. Wobei ihm Robinson (Jonas Zacharias) nonchalant zur Seite eilt. „Auch du, mein Sohn?“ – Das Ende ist bei Kafkas „Amerika“ offen – im OFF dominiert die Epiphanie oder sollte von Auferstehung die Rede sein? Theater als Rettungsanker einer gescheiterten Existenz: Weiß gekleidet, laden die engelsgleichen Schauspieler zur Anmeldung für ihr Haus in Oklahoma. Wobei nur der entnervte Kommentar des linken Engels (Max Pfnür) auf Karls wiederholte Frage das homogen sakrale Bild bricht. Das und die Tatsache, dass Therese nur einen Flügen besitzt. Ein letztes Mal lässt Kafka grüßen, als es Karl bis zur Anmeldung schafft – humorig wird er von einem Schalter an den nächsten verwiesen und erhält am Ende sein Bündel Kleidung nebst Mini-Flügeln und Lutscher. Die salbungsvolle Rede der Theaterdirektorin (Anja Clementi mit silbernem Glanz im Gesicht) erteilt Karl die Hilfsarbeiter-Absolution – AMERIKA, das gelobte Land, gibt es das also doch auch für einen Karl Rossmann?! Seine letzten hoffnungsvollen Worte vielleicht gerade deshalb „Amerika!“.
Oops they did it again
Kafkaesker als Kafka und herrlich irrational: Dem OFFtheater ist mit AMERIKA eine innovative und großartig schräge Inszenierung gelungen. Dass die trotz stolzer Länge und ansprechendem Soundtrack in Bann schlägt, war dann natürlich auch schon fast zu erahnen.
Fotonachweis: Press The Button (Sujetbild) & OFFtheater (Rest)
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Ich hatte die Ehre neben Kritikerin zu sitzen und Teile ihre Meinung zur Aufführung. Ein gelungener Abend! Mich würde interessieren, ob Kafka Pinocchio gelesen oder gekannt hat. Die Konstellation Rossmann, Delamarche und Robinson erinnert mich an Pinocchio und seine zwei zweifelhafte Freunde, den Fuchs und den Straßenkater. Weiß die Kritikerin mehr?
Hallo, das freut mich aber. So sieht bzw. liest man sich also wieder. Die Ehre war natürlich ganz meinerseits! 😉 Es freut mich, dass Sie meine Meinung zu Amerika teilen – übrigens, gute Frage! Ich hatte selbst auch schon Pinocchio und seine zweifelhaften Freunde im Kopf. Allerdings dann in meiner Simplicissimus-Euphorie offenbar wieder darauf vergessen. Ups. Die Parallelen scheinen aber wirklich frappant und ich habe mich jetzt mal schlau gemacht. Ja, da besteht tatsächlich ein offizieller Zusammenhang. Einige Sekundärwerke verweisen auf diese Analogien zwischen Kafkas Amerika und Collodis Pinocchio. Es scheint also, als habe sich Franz Kafka tatsächlich bei Pinocchio inspirieren lassen. Dabei stützen sich die Ansätze vor allem auf die Suche des kindlichen Helden nach dem Paradies oder die Handlungsschwäche der Protagonisten – die ja beide eint. Spannendes Thema, zu dem es sicher noch viel, viel mehr zu entdecken gibt.
Ich danke für die Auskunft! Das Mäntelchen von Delamarche in der Aufführung ähnelt ein bisschen dem des Fuchses in der Zeichentrickserie Pinocchio. Viele kennen den hölzernen Helden aus dem Fernsehen oder Kino und wissen oft nicht, welch großartiges Buch ihnen entgeht. Meine Liebe zu diesem Werk teile ich immerhin mit Federico Fellini, der es als sein Lieblingsbuch bezeichnete.
Gerne! Und stimmt! Das mit dem Mantel ist mir ja gar nicht aufgefallen, aber eine absolut treffende Beobachtung. Die Mäntel ähneln sich tatsächlich. Mich hat der Schal unter dem Hut fasziniert – irgendwie wurde Delamarche damit zu einer Art „orthodoxer Fuchs“, auch wenn das bestimmt nicht die Absicht war. 😉
Ich fürchte, ich gehöre zu den Banausen, die nur die Zeichentrickserie kennen. Allerdings gibt es seit ein paar Jahren eine hochgelobte neue Übersetzung und die will ich unbedingt lesen. Definitiv auf meiner Liste, der ungelesenen Bücher.
Federico Fellini? Na, dann sind Sie ja definitiv in bester Gesellschaft, da lässt es sich gut aushalten. 😉